Der fortschrittliche und konservative Este

Quelle: Renee Altrov, Visit Estonia

Der fortschrittliche und konservative Este

Autor:

Mihkel RaudSchriftsteller


Esten sind Menschen, die vor Gegensätzen nur so strotzen. Sie denken gern, dass sie die progressivsten Menschen der Welt sind – und manchmal gibt es dafür auch einen Grund. Auf der anderen Seite kandidiert der Este auch für den Titel des konservativsten Wesens im Universum.

Progressiver Waldmensch

Foto: Mariann Liimal, Visit Estonia

Da Estland sich am Anfang der 1990er Jahre vom Joch der Sowjetunion befreien konnte, gelang es dem Land, eine weltweit durchlebte Entwicklungsetappe zu überspringen. Faxgeräte, Floppy Disks und Pager waren in Estland nie besonders beliebt. Die Esten rasten aus dem Pergament-Zeitalter direkt in das 21. Jahrhundert und sie haben beim Digitalisieren ihres Lebens tatsächlich große Fortschritte gemacht. Sowohl Skype, Mobil-ID, die Steuererklärung, die man im Internet in ein paar Minuten ausfüllen kann, als auch E-Wahlen kommen ursprünglich aus Estland – wenigstens gefällt es den Esten zu glauben, dass das so ist.

Um ein Unternehmen zu gründen, muss ein Este sich überhaupt nicht bewegen oder wenn, dann allenfalls ein bisschen, um die Computermaus zu steuern. Unternehmertum in Estland ist genauso heilig wie der Ramadan im Iran oder Barbecue in den Vereinigten Staaten von Amerika und deshalb ist die Gründung eines Unternehmens in Estland so lächerlich einfach. Jedem gelingt es eine Firma in ein paar Minuten im Internet zu registrieren und sofort in die Geschäftstätigkeit einzutauchen, sei es, um nach Öl zu graben oder um Zuckerwatte herzustellen, beides gehört in Estland zu den vergleichsweise beliebten Unternehmensarten (NB! - es gibt in Estland leider keine Ölvorkommen).

Büro auf Estnisch

Foto: Renee Altrov, Visit Estonia


Während man in anderen Teilen der Welt zum Einreichen der Steuererklärung einen Steuerberater beauftragen muss, funktioniert dies für die Esten im Nu! Du musst nur ins Netz eintauchen, dich auf der Homepage des Finanzamtes anmelden, ein paar Häkchen setzen, „Enter“ drücken und schon bist du fertig. Spaß beiseite: die Steuererklärung füllen in Estland fast alle selbst und ohne fremde Hilfe aus und mehr als 10 Minuten braucht man nie dafür.

Also ist Estland ein echtes Zukunftsland. Um es einzuholen, muss der Rest der Welt sich ziemlich anstrengen. Auf der anderen Seite sind die Esten dazu in der Lage, sich wie echte Steinzeitmenschen zu benehmen und – was noch schlimmer ist – auch so zu denken.

So vergöttern sie zum Beispiel alle möglichen Hellseher, Wahrsagerinnen, Kartenleger, Hexen und Heiler. Die Esten treffen keine Lebensentscheidung, bevor nicht ein Pendler die Energiefelder erforscht und seinen Segen gegeben hat. Die Heiler helfen Esten gerne, auch wenn man dafür tief in den Beutel greifen muss, denn auch der Hexer hat sein Leasing-Auto zu bezahlen, wenn er nicht gerade auf einem Besen herumfliegt.

Ein Este genießt den Sommer im Garten seines Sommerhauses

Foto: Renee Altrov, Visit Estonia

Auf dem Nachttisch eines jeden Esten liegen feine Kristalle mit unterschiedlichsten Namen. In der Tat: wunderkräftige Steinchen sind der größte nationale Stolz der Esten und wenn du beim Schlafengehen kein heilendes Kristall unter das Kissen legst, bist du wahrscheinlich kein echter Este.

Der Glaube der Esten an die Hilfe, die aus dem Jenseits kommt, ist unerschütterlich. Kein Wunder also, wenn sie einfach zugängliche irdische Genüsse oft nicht richtig schätzen können. Vielleicht gerade deshalb kommt der letzte Modeschrei in Estland stets mit Verzögerung an.

Wenn Apple ein neues iPhone herausgibt, bekommt der Este es erst in einem Jahr in die Hände. Wenn ein weltberühmter Sänger für einen Auftritt nach Estland kommt, ist seine Popularität schon auf dem absteigenden Ast. Und wenn ein Este zum Opfer eines Modetrends wird, kann man ziemlich sicher sein, dass der sich im Rest der Welt längst wieder erledigt hat.

Also tragen die Esten jede Menge schreiende Gegensätze in sich. Aber um so interessanter ist es, sich mit ihnen zu unterhalten, weil man nie weiß, wann sie sich beim Gespräch in ein Hologramm verwandeln oder – das andere Extrem – als echte Steinzeitmenschen auftreten. Es wird nie langweilig mit ihnen, das steht jedenfalls fest!

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Zuletzt aktualisiert: 22.04.2019

Thema: Geschichte & Kultur