Eine kurze Einführung in die estnische Sprache

Quelle: Renee Altrov, Visit Estonia

Eine kurze Einführung in die estnische Sprache

Man muss kein Estnisch sprechen, um in Estland mit den Einheimischen zu kommunizieren. So gut wie jeder Este spricht mindestens eine Fremdsprache, vor allem Englisch und Russisch, aber auch Finnisch, Deutsch oder Schwedisch. Man macht den Esten aber eine große Freude, wenn man zumindest ein paar Brocken Estnisch lernt. Denn sie lieben ihre Sprache und ein „Aitäh" (Danke) wird immer geschätzt. Für eingefleischte Sprachenfans lohnt sich die Aneignung des Estnischen, denn es ist eine wirklich lustige, rhythmisch-melodische Sprache.


Viele deutsche Estland-Fans lieben das Land und die Menschen dort, aber die Sprache bleibt ihnen verschlossen. Das ist einerseits verständlich, denn Estnisch klingt für deutsche Ohren sehr fremd – obgleich wunderbar melodisch – und gilt tatsächlich als schwer zu lernen. Ein Linguist hat ausgerechnet, dass man über 1.000 Unterrichtsstunden benötigt, um halbwegs kompetent Estnisch sprechen zu können. Andererseits ist es merkwürdig, denn aus keiner anderen Sprache hat das Estnische so viele Impulse erhalten und bis heute verwendete Lehnwörter entnommen wie aus der deutschen.


Rhythmus und Melodie ...

... sind, was die estnische Sprache so liebenswert macht. Diese Eigenschaften finden sich auch im Hang der Esten zu Tanz und Gesang wieder.

Foto: Iris Kivisalu, Visit Estonia


Wissenswertes

Estnisch ist eine sehr melodische Sprache mit etlichen Wortstämmen, die aufs Deutsche zurückgehen und manch unverkennbaren Lehnwörtern. Trotzdem klingt sie für deutsche Ohren wunderbar ungewohnt und es gibt viele schöne Wörter, die einen zum Schmunzeln bringen – und manchmal auch staunen lassen.

Estnisch ist unter den europäischen Sprachen ziemlich einzigartig und gehört mit Finnisch und Ungarisch zum finno-ugrischen Zweig der so genannten uralischen Sprachfamilie. Weltweit wird es von rund 1,3 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen und ist eine der offiziellen Amtssprachen der EU. Estland hat mit 99,8% eine der höchsten Alphabetisierungsraten der Welt.

Die estnische Sprache kennt 14 grammatikalische Fälle, ihr Alphabet verfügt über 32 Buchstaben; õ, ä, ö und ü stehen eigenständig am Ende des Alphabets. Es werden viele Dialekte gesprochen, die sich grob in zwei Gruppen einteilen lassen: die nördlichen und die südlichen Varianten. De facto sind es insgesamt jedoch acht Dialekte und 117 Subdialekte.


Nützliche Alltags-Ausdrücke

Tere = Hallo
Palun = Bitte
Aitäh = Danke
Jah = Ja
Ei = Nein
Minu nimi on ... = Mein Name ist ...
Terviseks! = Prost!
Vabandust = Entschuldigung
Nägemist (umgangssprachlich) = Auf Wiedersehen

Weitere Ausdrücke finden Sie hier.


Eine bunte Vielfalt ...

... ist nicht nur Kennzeichen des estnischen Küche und des Landes insgesamt. Die estnische Sprache kennt acht Dialekte und 117 Subdialekte.

Foto: Iris Kivisalu, Visit Estonia


Was die Sache einfacher macht

Erfreulich einfach, wenn auch für deutsche Sprecher ungewohnt: Estnisch verfügt weder über Artikel, noch über ein grammatisches Geschlecht. Und es kennt keine Zukunftsformen, weshalb es bisweilen und scherzhaft als „pessimistische Sprache" beschrieben wurde. „Die Esten", so heißt es, „haben weder Geschlecht noch Zukunft." Zukünftiges wird in der Regel im Präsens ausgedrückt. Selten wird eine zukünftige Form konstruiert, indem man dem Satz die Verben „hakkama" (beginnen) bzw. „saama" (werden) einverleibt. Eigentlich gilt das jedoch als Germanismus und schlechter Sprachgebrauch.


Wie im Deutschen: zusammengesetzte Wörter

Mit dem Deutschen gemeinsam hat das Estnische unter anderem die Tradition zusammengesetzter Wörter. „Põllumajandusülikool", beispielsweise, ist die Landwirtschaftliche Hochschule („põllu" = des Feldes, „majandus" = Wirtschaft, „ülikool" = Hochschule). Allerdings kennt man in Estland hier noch weniger Hemmungen und kombiniert theoretisch ohne Ende drauf los. Das längste gebräuchliche estnische Wort ist „sünnipäevanädalalõpupeopärastlõunaväsimatus". Es bezeichnet die Geburtstagswochenendfeiernachmittagsunermüdlichkeit.


Estnisch hat viele Anleihen aus dem Deutschen

Ohne Sauna geht in Estland überhaupt nichts. Man lädt dazu gerne mal den "naaber" (Nachbar) ein. Und anschließend gibt es in der "köök" (Küche) vielleicht eine "supp" (Suppe) und "pannkook" (Pfannkuchen) mit "pekk" (Speck). Aber nicht zu viel essen, sonst kommt der "arst" (Arzt).

Foto: Oliver Moosus, Visit Estonia


Deutsche Einflüsse

Apropos deutsche Ohren: Durch die Jahrhunderte währende Präsenz der Deutschbalten in Estland hat die estnische Sprache viele Einflüsse aus dem Deutschen erhalten. Die Sprachwissenschaft weist rund 800 Wortstämme aus dem Niederdeutschen und rund 500 Wortstämme aus dem Hochdeutschen aus. Diese Wortstämme wird man als Deutscher ohne Estnisch-Kenntnisse allerdings meist nicht so ohne Weiteres erkennen. Aber es gibt einzelne Wörter, bei denen das ganz anders ist.

  • naps (Schnaps),
  • tund (Stunde),
  • pekk (Speck)
  • plats (Platz)
  • loss (Schloss)
  • reisibüroo (Reisebüro)
  • plaaster (Pflaster)
  • kahhel (Kachel)
  • pilt (Bild)
  • passiamet (Passamt)
  • müts (Mütze)
  • mantel (Mantel)
  • vein (Wein)
  • und – besonders hübsch: Moseli vein (Moselwein)
  • atentaat (Attentat)
  • arst (Arzt)
  • mööbel (Möbel)

Nicht ganz so offensichtlich – aber schon auch! – verhält sich die Sache beispielsweise bei den Wörtern koer (Hund – von Köter), nööp (Knopf) und piparkook (Pfefferkuchen).


Fun facts und seltsame Wörter in der estnischen Sprache

Die Esten veranstalten immer wieder Wettbewerbe, um eigene estnische Wörter für neue Sachverhalte zu kreieren. Regelmäßig gelangen diese dann in Umlauf und werden tatsächlich genutzt – und längst nicht immer nur die, die den Wettbewerb gewonnen haben. Beispiel: „taristu" = Infrastruktur. Es soll allerdings Esten geben, die dieses Wort inbrünstig hassen.

Viele estnische Sprichworte kennen wir genau so oder ähnlich auch im Deutschen. „Targem annab järele" (Der Klügere gibt nach), „Vana karu tantsima ei õpi" (Ein alter Bär lernt das Tanzen nicht mehr) oder „Ära hõiska enne õhtut" (Jauchze nicht vor dem Abend = Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben).


"Tere!" heißt "Hallo!"

Es ist die allgegenwärtige Begrüßungsformel in Estland.

Foto: Visit Estonia

Das Estnische gilt als schwer zu lernen und wer immer es schon einmal versucht hat, kann das leidvoll bestätigen. Es dürfte vor allem daran liegen, dass sich das Estnische (wie auch die anderen finnisch-ugrischen Sprachen) in seiner grammatischen Struktur deutlich von Sprachen wie dem Deutschen unterscheidet.

Zwei der essentiellen Besonderheiten der estnischen Sprache sind in einem geflügelten Wort gebündelt: „Die Esten kennen kein Geschlecht und keine Zukunft" – und sie ersparen sich damit, möchte man als Deutscher lächelnd ergänzen, sowohl eine ganze Menge emotional aufgeladener Debatten als auch sinnloses Grübeln. Vielleicht ist ja schon in der Sprache dasjenige angelegt, was die Esten im Allgemeinen auszeichnet: ein sehr unaufgeregter und gelassener Pragmatismus.


Es wird lang und länger

Im Estnischen kann man SEHR lange Wörter bilden

Durch eine Genitiv-Konstruktion lassen sich quasi beliebig viele Wörter in Reihe schalten.

Foto: Mariann Liimal, Visit Estonia

Eine der faszinierenden Besonderheiten an der estnischen Sprache: Man kann durch die Kombination von einzelnen Wörtern quasi endlose Bandwurm-Wörter bilden, indem man das jeweils vorne stehende Wort als Genitiv des folgenden Wortes formt. Natürlich tun das die Esten selbst im Alltag nur sehr begrenzt, aber prinzipiell geht es eben. Und natürlich sind zu Demonstrationszwecken wunderbare Konstrukte in Umlauf.

Zwei herrlich-absurde Beispiele:

Uusaastaöövastuvõtuhommikuidüll

Das meint die „Neujahrsnachtempfangsmorgenidylle" bzw. die „Idylle am Morgen des Neujahrsnachtempfangs".

Isaspaabulinnusabakattesulesilmamunavärvivabrikukuldväravaauvahtkonnaülemapühapäevajakirinnataskusisevoodrivahe

Es bedeutet, auseinanderklabüstert: „Futterzwischenraum der Brusttasche der Sonntagsjacke des Obersten der Ehrenwache des Goldenen Tores der Farbenfabrik für Schwanzdeckfederaugäpfel männlicher Pfaue".


Palindrome

Eines der schönsten und bekanntesten Beispiele für diese Bandwurm-Wörter ist

kuulilennuteetunneliluuk

Es bedeutet "Kugelflugwegtunnelluke" bzw. "Die Luke des Tunnels des Flugwegs der Kugel."

Das Besondere an diesem Wort ist allerdings gar nicht die Genitivkonstruktion alleine: Es ist darüber hinaus ein Palindrom, will heißen: Es liest sich rückwärts genauso wie vorwärts. Und gleichzeitig ist es mit 24 Buchstaben das längste Palindrom im Estnischen.

Freilich gibt es noch kürzere andere Palindrome wie das unspektakuläre kirik („Kirche") oder das schöne ujutuju („Schwimm-Stimmung") und auch ganze Palindrom-Sätze:

  • Aias sadas saia. („Im Garten regnete es Weißbrot.")
  • See uus selles suu ees. („Dieses Neue darin vor dem Mund.")
  • Illar Annok ajas alla saja konna ralli. („Illar Annok überfuhr eine Rallye von hundert Fröschen.")


Zungenbrecher üben!

Mundmuskeltraining

Der estnischen Zungenbrecher gibt's viele – und sie klingen alle wunderschön!

Foto: Liina Notta, Visit Estonia

Zum internationalen Tag der estnischen Sprache hatte die Uni in Tartu in diesem Jahr eine schöne Idee. Da man ja wisse, dass Estnisch schwer zu lernen sei und vor allem Sprachstudenten vor große Herausforderungen stelle, habe man lange nachgedacht – und nun eine perfekte Lösung.

Man solle einfach die zehn schönsten estnischen Zungenbrecher so lange üben, bis man nicht mehr stolpert und die Aussprache stimmt; der Rest beim Estnisch-Lernen sei dann, so die Uni, ein Klacks.

Und wenn man sich die Zungenbrecher in den mitgelieferten Audiobeispielen bzw. Videos so anhört, könnte da in der Tat etwas dran sein; das wird dauern!

Jõululaululaulja (der "Weihnachtslied-Sänger") ist zum Beispiel wunderhübsch! Oder die Aufforderung Anna õlu üle Ülo õe õla („Reich mal ein Bier über die Schulter der Schwester von Ülo!") und das sachlich eigentlich völlig unspektakuläre Esimese esimehe esimene esinemine (nämlich der „erste Auftritt des Ersten Vorsitzenden").


Lustiger Wohlklang

Es gibt sehr lustige Wörter im Estnischen

Foto: Mart Vares, Visit Estonia

Wir haben bereits gesehen: Viele der erwähnten Wörter klingen für deutsche Ohren ungewohnt – aber auch sehr lustig. Und davon gibt es im Estnischen noch viel mehr. Ein paar Beispiele:

  • öö (Nacht)
  • öötöö (Nachtarbeit)
  • töö-öö (Arbeitsnacht)
  • jää-äär (Eiskante)
  • habemeajaja (Barbier)
  • asjaajaja (Angestellter)
  • jalalaba (Fußsohle)
  • untsantsakas (Frechheit)
  • nipet-näpet (Krimskrams)
  • mürakaru (Brummbär)

Jedes Jahr am 14. März wird in Estland übrigens der Tag der Muttersprache begangen. Auf Estnisch heißt er emakeelepäev!

Zuletzt aktualisiert: 08.03.2024

Thema: Geschichte & Kultur