Das Sänger- und Tanzfest in Estland

Quelle: Lembit Michelson, Visit Estonia

Das Sänger- und Tanzfest in Estland

Text: Sten Weidebaum

Pressesprecher der Song and Dance Festival Foundation

Das Sänger- und Tanzfest gehört fest zur estnischen Kultur. Es ist ein verbindendes Element der Gesellschaft, wird seit über 150 Jahren gefeiert und begeistert regelmäßig Alt und Jung.


Wenn Sie einen Esten bitten, über Estland zu sprechen, dauert es nicht allzu lange, bis die Geschichte beim Sänger- und Tanzfest ankommt. Warum ist das so? Wahrscheinlich, weil das Sänger- und Tanzfest nicht nur ein großes Sommerereignis ist, das alle fünf Jahre in Tallinn stattfindet, sondern für uns Esten viel mehr als das: Es ist drückt unsere Art zu sein aus – und einen wichtigen Teil unserer Geschichte. Es hilft uns, uns selbst besser zu verstehen und versichert uns aller Werte, die wir als Gesellschaft teilen. Für uns ist dieses Fest essentiell, Ausdruck unserer Liebe zu Nation und Land, zu unserer Sprache, unserer Kultur und dem tradierten Brauchtum.

Seit 1869, als es das erste Mal in Tartu unter der Leitung von Johann Voldemar Jannsen stattfand, ist das Fest stetig gewachsen und hat auch gesellschaftliche Entwicklungen nicht ignoriert. An den ersten Festivals nahmen ausschließlich männlich besetzte Chöre und Blasorchester mit insgesamt tausend Interpreten teil. Im Laufe der Zeit kamen gemischte Kinder-, und Erwachsenenchöre, Hobbymusiker und sogar Kleinkindchöre hinzu. Die Veranstaltung zog nach Tallinn um, wo 1934 zum ersten Mal auch Tänzer mitmischten. Seit 1947 finden die Sänger- und Tanzfeste regelmäßig gemeinsam statt.

Luftbild vom großen Jubiläums-Laulupidu 2019 auf dem Tallinner Sängerfeld
Foto: Sven Zacek, Visit Estonia


Das große Jubiläums-Sänger- und Tanzfest im Jahr 2019 hatte 44-mal mehr Teilnehmer als das erste Liedfestival in Tartu, und das Interesse des Publikums war so groß, dass die Eintrittskarten zum ersten Mal in der Geschichte komplett ausverkauft waren. 100.000 Menschen nahmen teil. Nur einmal waren es mehr: Während der Singenden Revolution haben sich bis zu 300.000 Menschen auf dem Sängerfeld gedrängt.

Dieses große Interesse zeigt, dass die Tradition des Festivals, das Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist, tatsächlich lebendig gehalten wird, dass es Bedeutung für alle Esten, unabhängig von Alter oder sozialem Status hat. Auf unserer Bühne steht der Präsident neben dem Schulmädchen, und beide vertrauen gerne auf die Kompetenz des Dirigenten, während die ganze Nation mitfiebert – und natürlich mitsingt.


Die Festival-Vorbereitung

In Estland findet in zehn Jahren viermal ein landesweites Sänger- und Tanzfest statt. Eigentlich ist der Rhythmus der Folgende: Alle fünf Jahre – in solchen Jahren mit einer 2 oder einer 7 am Ende – wird das Jugendfestival begangen. Und ebenfalls alle fünf Jahre – aber versetzt in solchen Jahren mit einer 4 oder einer 9 am Ende – feiern die Esten das allgemeine, große Sänger- und Tanzfest.

Durch die Corona-Pandemie ist das vorübergehend durcheinander geraten; man plant aber, den angestammten Rhythmus nach Pandemie-Ende wieder aufzunehmen. Abweichend von der Regel findet also das nächste Jugend-Festival 2023 und das nächste große Sänger- und Tanzfest im Juli 2025 statt.

Die Vorbereitung dauert durchschnittlich drei Jahre. In Estland vergeht also kein Jahr ohne die Vorbereitungen für die nächste große Party.

Foto: Jaanus Ree, Visit Estonia


Das Publikum muss sich mit einer weniger langen Vorbereitungszeit begnügen: Rund sechs Monate vor dem großen Tag beginnt der Ticketverkauf. Das Tanzfestival bietet drei identische Tanzvorführungen in der Kalev-Arena in Tallinn, die etwa zwei Stunden dauern. Jede Show bietet Platz für 10.000 Zuschauer. Das Liederfest findet traditionell auf dem Gelände des Tallinner Sängerfeldes statt, auf dem – neben den Sängern, die an einem mehr als 6-stündigen Hauptkonzert teilnehmen –, ca. 70.000 Zuschauer Platz finden.

Sowohl das Sänger- als auch das Tanzfest finden im Freien statt. Dies bedeutet, auf Regen und Sonne vorbereitet zu sein. Außerdem bringt das Festival in Estlands Hauptstadt regelmäßig größere Verkehrsbeschränkungen und Staus mit sich, weshalb für die Anreise viel Zeit und Geduld nötig ist. Natürlich kann man auch teilnehmen, wenn man nicht vor Ort ist: Das estnische Fernsehen überträgt das Fest live und streamt es via Internet, so dass auf der ganzen Welt mitgesungen werden kann.


Ein Familientreffen

Das Sänger- und Tanzfest wird passender Weise auch als großes Familientreffen bezeichnet. Im Allgemeinen sind die Esten ziemlich individualistisch. Aber hier zeigt sich ein seltener Konsens in Bezug auf traditionellen Volkstanz und estnische Musik, Patriotismus und die Dankbarkeit gegenüber den Vorfahren, deren Bräuche man in Ehren halten möchte.

Wie bereits gesagt, hat sich das Sänger- und Tanzfest ständig weiterentwickelt. Immer war es auch Ausdruck der aktuellen Generation seiner Teilnehmer. Im Laufe der Zeit sind eine Reihe neuer Traditionen entstanden, die nun nicht mehr wegzudenkender Teil des Festes sind. Als Hommage an Tartu, wo die ersten Festivals stattfanden, beginnt heute jedes landesweite Sänger- und Tanzfest in der Universitätsstadt im Süden des Landes. Wie beim Olympischen Feuer wird die in Tartu entzündete Festival-Flamme dann durch ganz Estland bis nach Tallinn getragen, wo in der Kalev-Arena tausende Tänzer auf ihre erste Performance warten. Das Tanzfest wird mit dem "Tuljak" beendet – dem stets mit Spannung erwarteten und von Anna Raudkats initiierten Abschlusstanz des Festivals.

Foto: Jaanus Ree, Visit Estonia


Und dann geht es für alle Teilnehmer des Tanzfestes in einer 5 Kilometer langen Prozession auf das Tallinner Sängerfeld. Der Marsch wird regelmäßig von vielen Schaulustigen am Straßenrand begleitet.

Auf dem Sängerfeld wird dann das Feuer im Hochturm entzündet und alle intonieren Aleksander Kunileids Lied "Dämmerung", mit dem jedes Sängerfest seinen Anfang nimmt.

Außer den großen, landesweiten Sänger- und Tanzfesten gibt es zwischendurch auch kleinere regionale oder lokale Festivals – quasi, um das Feuer in den langen Zwischenzeiten am Leben zu halten. So ist dieses schöne Fest für die Esten einerseits eine Art Segel geworden, das sie durch die Zeiten trägt, ihnen dabei hilft, sich zu verändern und nach vorne zu schauen. Andererseits ist es auch so etwas wie ein Anker, der Esten auf der ganzen Welt vereint und sie mit ihrer Heimat verbindet.

Stimmung und Flair bei einem dieser nationalen Festivals sind schwer zu beschreiben. Man muss das erleben. Man muss mitmachen und teilnehmen – als Sänger, Tänzer oder Zuschauer –, um den Zauber zu spüren. Die nächsten Gelegenheiten dazu sind das Jugend-Festival 2023 und das Sänger- und Tanzfest im Juli 2025. Es wird das 28. Sänger- und das 21. Tanzfestival sein.

Zuletzt aktualisiert: 01.06.2023

Thema: Tallinn, Geschichte & Kultur