Paddeln durch Zeit und Raum – die fünfte Jahreszeit im Soomaa-Nationalpark

Alte Bootsbautraditionen und wilde Natur treffen bei den Überschwemmungen der fünften Jahreszeit im Soomaa-Nationalpark aufeinander.

Wir schauen uns das faszinierende Phänomen aus der Nähe an!

Quelle: Siim Verner Teder, Visit Viljandi

Paddeln durch Zeit und Raum – die fünfte Jahreszeit im Soomaa-Nationalpark

Es ist eine UNESCO-gelistete Tradition, die auf den ersten Blick aus rauer Frühlingsnatur und Wasser besteht. Wasser soweit das Auge reicht ... Wir haben während der berühmten fünften Jahreszeit einen Tag im Soomaa-Nationalpark verbracht.

Text:

Hillary Millán

"Ein Grauspecht", sagt Aivar Ruukel, der inoffizielle Botschafter des Soomaa-Nationalparks. Er bleibt stehen und lauscht dem Stakkato. Ich blicke hinauf in die kahlen Bäume und suche angestrengt nach der Quelle des charakteristischen Geräusches. Außer dem Specht und dem blubbernden Fluss hinter der Saarisoo Farm ist alles völlig ruhig.


Die fünfte Jahreszeit im Soomaa-Nationalpark

Foto: Siim Verner Teder, Visit Viljandi


Ich bin mit Aivar hier, um das als "fünfte Jahreszeit" bekannte Phänomen einmal hautnah zu erleben. Während des Tauwetters im Frühjahr treten die vier Flüsse, die durch den Soomaa-Nationalpark fließen, über die Ufer, überschwemmen die umliegenden Wiesen und Wälder und verwandeln die gesamte Landschaft in einen riesigen See. Diese Überschwemmungen sind ein verlässliches Ereignis jeweils Ende März oder Anfang April. Es ist wie eine zusätzliche Jahreszeit zwischen Winter und Frühling – die fünfte Jahreszeit Estlands eben.

Der Himmel ist noch grau, obwohl die Vorhersage für später Sonne ankündigt. Aivar hat beschlossen, unsere Kanutour auf den Nachmittag zu verschieben, in der Hoffnung, dass die Frühlingssonne auf dem Wasser für etwas Wärme sorgen wird. Dort fühlt er sich am wohlsten, auch wenn seine Tage oft mit Zoom-Anrufen und Konferenzen ausgefüllt sind. Er zog im Alter von 12 Jahren nach Soomaa, also vor über 40 Jahren, und auch seine Mutter und seine Schwester leben immer noch hier. Ihr Haus, die Saarisoo Farm, ist unser erster Halt. Während wir darauf warten, dass die Sonne sich ihren Weg durch die Wolken bricht, führt mich Aivar durch die Werkstatt, in der er Haabjas, die traditionellen estnischen Einbäume, baut.

Die Traditionen der fünften Jahreszeit lebendig halten

Einbäume waren einst in ganz Europa verbreitet, aber Estland ist der einzige Ort in der EU, an dem dieser Brauch erhalten geblieben ist. Aivar ist einer der wenigen Menschen in Estland, die noch über das notwendige Know-how und die Fertigkeiten zur Herstellung dieser Boote verfügen.

Die jahrhundertealte Tradition war während der Jahrzehnte der sowjetischen Besatzung Estlands existentiell bedroht. Die Bewohner von Soomaa und Umgebung wurden nach Sibirien deportiert, und die kleinen Landbesitzer wurden zur Kolchosen-Landwirtschaft gezwungen. Doch die Haabjas überlebten trotzdem, denn die saisonalen Überschwemmungen machten die Kanus als Transportmittel einfach notwendig.

Aivar Ruukel in einem haabjas

Der Name kommt von „haab", dem estnischen Wort für Espe.

Foto: Dagmar Holder, Visit Estonia


Dennoch hatte der Einbaum einen zunehmend schweren Stand: Die Bevölkerung Soomaas schwand; moderne Kanus wurden verfügbar und trieben den alten Brauch weiter dem Aussterben entgegen.

Aber damit ist es jetzt vorbei! Boot für Boot wird die Tradition nun wiederbelebt. Dank der Initiative von Aivar wurde der Bau und die Verwendung von Haabjas 2021 in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Es handelt sich um eine "lebendige" Tradition, denn Aivar hat den Bau von Haabjas von Bootsbaumeistern gelernt, so wie diese ihn von ihren Vorvätern gelernt hatten. Heute gibt er selbst die Techniken an jüngere Generationen weiter und bietet Workshops für interessierte Besucher an.

Aber gerade lebendige Traditionen verändern sich mit der Zeit. Als Aivar in den 90er Jahren lernte, benutzten die Bootsbauer bereits Elektrowerkzeuge, um die massiven Baumstämme auszuschneiden. Damals durften allerdings nur Männer an den Booten arbeiten – Frauen wurde nachgesagt, dass sie den "bösen Blick" hätten, so wie weibliche Seeleute früher als Unglücksbringer auf See galten. Das hat sich erfreulicherweise geändert. Aivars Schwester, Juta Pertel, hat als erste Frau in Estland ein Boot gebaut.

Ein Teil des Herstellungsprozesses ist auch heute noch genau derselbe wie vor hundert Jahren. Nachdem das Holz mit Hitze und Wasser erweicht wurde, werden Stöcke quer in den Rumpf gespannt, um die Öffnung allmählich zu vergrößern. Trotz Estlands Ruf als digital fortschrittlichem Land "gibt es dafür keine App und kein KI-Tool", sagt Aivar mit einem Schmunzeln.



Im Amazonas Estlands

Wie vorhergesagt, kommt die Sonne heraus. Der Himmel ist strahlend blau mit ein paar weißen Wolken, die vom Morgen übriggeblieben sind. Eine leichte Brise kommt auf. Ich sitze im Bug des Kanus. Aivar sitzt im Heck, um uns besser über das Wasser zu steuern.

Aivar bezeichnet den überschwemmten Nationalpark als den estnischen Amazonas, aber das tut er natürlich mit einem Augenzwinkern. Das Amazonasbecken ist 150 mal größer als ganz Estland.

Wir paddeln zwischen Bäumen hindurch, die aus dem Wasser ragen. Es sieht wirklich exotisch aus, so etwas habe ich noch nie gesehen. Das Wasser ist wie ein Spiegel; alles, was über der Wasserlinie liegt, wird perfekt auf der Oberfläche reflektiert.

Äste, Sträucher, langes Schilf und Gräser treiben vom Waldboden auf und streifen den Boden des Kanus. Ab und zu stoßen wir auf schwimmende Birkenstämme. Die Paddel tauchen mit einem sanften, rhythmischen Plätschern ins Wasser ein und wieder aus. Ich neige meinen Kopf. Für mich als Mutter von zwei kleinen Kindern klingt es völlig exotisch, so wie etwas, das ich schon lange nicht mehr gehört habe: Stille. Kein Vogelgezwitscher, obwohl Aivar sagt, dass es am Morgen mehr davon gibt. Kein Moskito-Summen. Kein Wind, wenn wir zwischen den Bäumen schweben. Nur Stille und das gleichmäßige Geräusch der Paddel.


Wir nähern uns einem Bestand von 100 Jahre alten Espenbäumen. Aivar ist begeistert, denn er war noch nie an dieser Stelle im Wald. Er schießt ein Foto von den massiven Stämmen. Im Winter will er wiederkommen, um sie sich genauer anzusehen. Ich strecke meine Hand aus und streiche über das schwammige grüne Moos ganz unten am Stamm eines der Bäume. Seine Krone sieht kahl und knorrig aus. Sie sieht tot aus. Aivar sagt, dass der Baum selbst im Tod noch lebendig ist; er beherbergt Hunderte von anderen Arten. "Emahaab" nennt er ihn - Mutter Espe.

Erkunden Sie den Soomaa-Nationalpark zu Fuß

Die beste Art, die fünfte Jahreszeit zu erleben, ist natürlich im Kanu auf dem Wasser, aber wenn Sie kein Kanu mieten möchten, können Sie die das Phänomen auch von den Wanderwegen und Aussichtstürmen im Park aus beobachten. Allerdings sollten Sie vorher im Besucherzentrum vorbeischauen und sich genau informieren, denn einige der Wanderwege könnten komplett unter Wasser stehen.

Steht die fünfte Jahreszeit bereits auf Ihrer Bucket-List?

Die Stille. Das Wasser. Die kahlen grauen Äste der knorrigen Bäume. Mit kalten Füßen und kalten Wangen in einem Kanu sitzen. Grubentoiletten und einfaches Essen. Der Soomaa-Nationalpark während der fünften Jahreszeit ist nicht jedermanns Sache. Aber gerade das macht ihn zu einer nachhaltigen Erfahrung.

An einem guten Wochenende während der fünften Jahreszeit begrüßen Aivar und sein Geschäftspartner Algis Martsoo rund 300 Besucher im Park. Obwohl auch weitere Unternehmer Touren und Kanuverleih anbieten, kann es gut sein, dass Sie das Wasser ganz für sich allein haben, vor allem, wenn Sie unter der Woche kommen.

Um die fünfte Jahreszeit in Soomaa zu erleben, müssen Sie flexibel sein und bereit, sich den Launen des Wassers anzupassen. Obwohl die Überschwemmung jedes Frühjahr stattfindet, ist es unmöglich, die genauen Hochwasserdaten mehr als ein paar Tage im Voraus zu kennen. Und dann ist da noch das Wetter. Der Frühling in Soomaa ist kalt – die durchschnittliche Höchsttemperatur im März liegt bei 2° C, die Tiefsttemperatur bei -4° C. Es kann sonnig, bewölkt, regnerisch oder schneereich sein, vielleicht sogar alles am selben Tag. Darauf müssen Sie sich einstellen.

Ein schneereicher Frühlingsmorgen in Soomaa

Foto: Hillary Millán, Visit Estonia


Am Ende des Tages war mir kalt, sogar in meiner Winterkleidung. Die Sauna im Soomaa Feriendorf war warm und einladend. Ich hatte sie ganz für mich allein. Vor dem Schlafengehen ging ich nach draußen, um die Sterne am wolkenlosen Himmel zu betrachten. Als ich aufwachte, zwitscherte ein einzelner Vogel in dem Baum vor meinem Fenster. Es schneite. Die ganze Landschaft war in ein weißes Kleid gehüllt. Ich wickelte mich in die Bettdecke ein und nahm mir etwas für den nächsten Winter vor: Mit dem Tretschlitten durch Soomaa!

Hier erfahren Sie mehr über das Thema:

Estlands fünfte Jahreszeit