Empfehlenswerte estnische Literatur in deutscher Übersetzung

Quelle: Stina Kase, Visit Estonia

Empfehlenswerte estnische Literatur in deutscher Übersetzung

Text:

Felix Hau


Kann man sich in ein Land hineinlesen? Die Seele der Bewohner erfassen – durch Literatur? Viele Menschen, die gern lesen, behaupten, das gehe ganz ausgezeichnet. Ja, mehr noch: Es sei der Königsweg zum Verständnis des Unbekannten. Wohlan: Unser deutscher Autor trifft einen seit langen Jahren in Tartu lebenden deutschen Freund zum Gespräch über estnische Bücher in deutscher Sprache.


Es ist ein recht lauer Abend Anfang Oktober. Ich habe mich den ganzen Tag in Tartu herumgetrieben und treffe nun, am Abend, meinen Freund Gottfried, um mit ihm zusammen dem Hinweis einer gemeinsamen Freundin nachzugehen. Sie hatte nämlich angeregt, für Visit Estonia einmal interessante estnische Literatur zu sichten, die es in deutscher Übersetzung gibt. Denn, so sagte sie, es gibt gar nicht so wenige Menschen, die ein Land erst einmal über die Literatur kennen lernen möchten.

Wo in Tartu könnte man ein solches Gespräch besser führen als in der wunderbaren kleinen Weinbar Vein ja Vine? Und genau hier treffe ich deshalb nun Gottfried. Wir suchen uns ein leckeres Fläschlein aus den Beständen und verziehen uns mit zwei Gläsern an einen der hinteren Tische. Gottfried lebt übrigens seit 1991 hier; er hat an der Uni Tartu studiert, war dort später als Lektor tätig und arbeitet heute als freiberuflicher Übersetzer. In der estnischen Literatur kennt er sich bestens aus – und hat auch einen Überblick, welche unbedingt lesenswerten Werke es auf Deutsch gibt.


Kalevipoeg

„Kalevipoeg laudu kandmas" („Kalevipoeg beim Brettertragen") (1914) von Oskar Kallis (Eesti Kunstimuuseum, Tallinn)


Felix: Wenn wir ganz allgemein daran denken, welches Werk ein interessierter Deutscher lesen sollte, um einen geistigen Eindruck von Estland und seiner Kultur zu bekommen – was fällt dir dann als Erstes ein?

Gottfried: Kalevipoeg, das estnische Nationalepos. Das wird sich zwar wohl kaum jemand von Anfang bis Ende durchlesen wollen, aber es ist natürlich zweifellos einer der wichtigsten Texte.

Felix: Das Epos gründet auf Volkslegenden und Sagen und soll Ähnlichkeit mit dem finnischen Kalevala haben ...

Gottfried: Ja, allerdings ist Kalevipoeg keine echte Volkssagensammlung, sondern stammt komplett aus der Feder des estnischen Arztes und Schriftstellers Friedrich Reinhold Kreutzwald.

Felix: In 20 Gesängen mit insgesamt 19.000 Versen wird darin auf mythischer Ebene Estland begründet und erklärt.

Gottfried: Es ist insofern ein klassisches Nationalepos. Allerdings gibt es zwei Besonderheiten: Der Held hat ausgesprochen menschliche Züge; er schläft zum Beispiel gern und viel. Und das Ganze endet nicht platt „gut". Das Böse wird nicht final besiegt, sondern lediglich unter Kontrolle gehalten. Estnischer Pragmatismus eben.


Jaan Kross

Felix (lacht): Dann lass uns mal weg vom Epos und in die real erzählende Literatur wechseln. Ich höre allenthalben, dass Jaan Kross ein estnischer Autor sei, den man lesen sollte ...

Gottfried: Oh ja! Der Verrückte des Zaren, Das Leben des Balthasar Rüssow oder Wikmans Zöglinge!

Jaan Kross (1938) und drei seiner Werke

Foto von Jaan Kross: MaarjaU, Creative Commons Lizenz CC BY-SA 4.0

Eigentlich muss man von Kross alles lesen. Von vorne bis hinten und wieder zurück. Es gibt mittlerweile auch schon eine ganze Menge in deutscher Übersetzung. Der „Verrückte" gilt nach wie vor als sein berühmtestes Werk, obwohl ich persönlich den „Balthasar" besser finde.

Kross hat sich im Laufe seines schriftstellerischen Lebens immer weiter in Richtung Gegenwart bewegt und da ich die jüngere Geschichte meistens interessanter finde als ältere Perioden, gefallen mir entsprechend auch seine späteren Romane besser.

Die zerlesensten Bücher sind bei mir Wikmani poisid ("Wikmans Zöglinge") und Mesmeri ring. Letzteres gibt es noch nicht auf Deutsch; es ist im Prinzip eine Fortsetzung der „Zöglinge" und behandelt die Studentenzeit und den Beginn der sowjetischen Besatzung in Tartu 1939/1940.


Viivi Luik

Von Ave Maria Mõistlik - Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=14942362


Felix: Cornelius Hasselblatt zeigt sich in seiner „Literaturgeschichte" sehr angetan von der Autorin Viivi Luik. Ihre Romane sind ziemlich kurz und nüchtern, eher Erzählungen, und behandeln vornehmlich die Sowjetzeit in Estland.

Gottfried: Die bekanntesten beiden sind wohl Der siebte Friedensfrühling und Die Schönheit der Geschichte. Der „Friedensfrühling" spielt in der Stalin-Ära und zeichnet ein ziemlich unverhülltes negatives Bild dieser Zeit aus der berichterstattenden Perspektive eines kleinen Mädchens. Es ist ein Wunder, dass das bereits 1982 abgeschlossene Buch die Zensur passieren konnte. Es gab nur eine Beanstandung: Das Wort „Roter" möge die Autorin doch besser mit „Parteimitglied" ersetzen.

Die Schönheit der Geschichte spielt in den Endsechzigern und räumt mit der Verklärung auf, welche die Sechzigerjahre im Nachhinein bei einigen erfahren haben. Lässt man sich auf den nüchternen Stil und auf die Bilderwelt ein, die die Autorin katalysiert, spürt man unmittelbar das permanent Bedrückende, das auch dieser Zeit stets eignete.


Emil Tode alias Tõnu Õnnepalu

Von Ave Maria Mõistlik, eigenes Werk - CC BY-SA 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/


Felix: Es gibt ein Buch, das in der Wendezeit spielt und über das viel diskutiert worden ist – auch über die Frage, worum es darin eigentlich hauptsächlich geht ...

Gottfried: Du meinst sicher Im Grenzland. Das Buch schlug damals in den Neunzigern ein wie eine Bombe. Nicht zuletzt wohl, weil es der erste Roman war, der Homosexualität thematisierte. Zumindest wurde er – und wird er wohl meistens immer noch – so gelesen.

Tatsächlich wird über das Geschlecht der Hauptperson allerdings überhaupt nichts gesagt. Das ganze Thema – die plötzliche Freiheit, sowohl zum Reisen als auch bei der eigenen Lebensgestaltung, bei der man aber immer wieder auf die noch aus der Vergangenheit stammenden Grenzen trifft – war damals hochaktuell und man kann den Roman natürlich auch als reines Stimmungsbild des Aufeinandertreffens von Ost und West lesen.

Tõnu Õnnepalu, der verbirgt sich hinter dem Pseudonym „Emil Tode", hat noch einige sehr gute Romane geschrieben, übersetzt sind die allerdings nicht.


Karl Ristikivi


Felix: Welches Buch fällt dir beim Stichwort „ungewöhnlich" ein?

Gottfried (sehr schnell): Die Nacht der Seelen von Karl Ristikivi. Das ist ein faszinierendes Buch und der erste surrealistische Roman in der estnischen Literatur. Ristikivi schrieb ihn 1953 im schwedischen Exil, in Estland selbst konnte er erst 1991 erscheinen. Lass mich dazu kurz Cornelius Hasselblatt zitieren (er sucht auf seinem iPad). Ah, hier, warte ... :

"Mit diesem visionären Text, in dem die Hauptperson in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen in der Neujahrsnacht in einem labyrinthischen Haus umherirrt, schlug der Autor in der estnischen Literatur eine neue Seite auf, die mit den verschiedensten Ismen assoziiert worden ist: Surrealismus, Existenzialismus, Irrationalismus. Wahr an all dem ist, dass dieser Roman einen Gegenentwurf zum lange vorherrschen Realismus darstellte und die tragisch-düsteren Begebenheiten des Romans etwas Beklemmendes und Unwirkliches haben. Der Roman ist mit vielen großen europäischen Namen wie Spengler, Kafka oder Beckett in Verbindung gebracht worden (...) Ristikivis Pech war, dass er in einer wenig verbreiteten Sprache schrieb und auch das noch in einer Exilsituation tat, in der sein Text von der Mehrheit der potenziellen Leserschaft nicht normal rezipiert werden konnte. Zwar wurde Ristikivi auch in Estland relativ viel gelesen, aber zu voller Geltung ist er erst nach seinem Tode gekommen."


Anton Hansen Tammsaare

Järva County Museum, Public domain, via Wikimedia Commons


Felix: Gibt es in der estnischen Literatur so etwas wie ein umfassendes Kultur- und Sittengemälde einer ganzen Ära?

Gottfried: Ja, gib es. Im Original heißt das monumentale Werk Tõde ja õigus, also „Wahrheit und Recht". Es ist von Anton Hansen Tammsaare und besteht aus fünf Teilen, die allesamt in deutscher Übersetzung vorliegen: Wargamäe, Indrek, Wenn der Sturm schweigt, Karins Liebe, Rückkehr nach Wargamäe. Es könnte allerdings schwierig sein, die Bücher auf Deutsch heute noch zu bekommen. Aber es ist im Grunde der estnische Roman des 20. Jahrhunderts überhaupt. Eventuell vergleichbar mit den Buddenbrooks.


Weitere Lektüre-Tipps

Felix: Vielen Dank, Gottfried, für den Überblick! Gibt es etwas, das wir überhaupt noch nicht angesprochen haben und das du noch als Empfehlung parat hättest?

Gottfried (überlegt kurz): Außer kompletten Romanen ist in deutscher Übersetzung auch kürzere Prosa erschienen. Jüngeren Datums sind hier die Sammlungen Der Herbst kommt jedes Mal zu früh... Jüngere Literatur aus Finnland, Estland und Ungarn und Das Leben ist noch neu: zehn estnische Autoren.

Eine kleine Kostbarkeit und nur noch antiquarisch und mit Glück zu kriegen ist der Sammelband Acht estnische Dichter, im Exil sehr gut übersetzt und herausgegeben von Ants Oras. Die acht Dichter sind das Beste der estnischen Vorkriegslyrik: Betti Alver, Bernard Kangro, Uku Masing, Aleksis Rannit, Gustav Suits, Heiti Talvik, Marie Under und Henrik Visnapuu. Für den wahren Kenner estnischer Literatur unabdingbar!


Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre!

Unten folgt noch eine übersichtliche Liste der besprochenen Bücher.

Foto: Paul Meiesaar, Visit Estonia


Literaturliste

Cornelius Hasselblatt: Geschichte der estnischen Literatur: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. De Gruyter, Berlin 2006.
Peter Petersen (Hrsg.): Kalevipoeg. Das estnische Nationalepos. In der Übersetzung von Ferdinand Löwe. Mayer, Stuttgart 2004.
Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren. [Mittlerweile in verschiedenen Ausgaben erschienen, u. a. bei dtv als Taschenbuch.]
Jaan Kross: Das Leben des Balthasar Rüssow. [Auch hier verschiedene Ausgaben vorhanden, eine mehrbändige aus der DDR, später dann in einem Band zusammengefasst.]
Jaan Kross: Wikmans Zöglinge. Osburg, Hamburg 2017.
Viivi Luik: Der siebte Friedensfrühling. Rowohlt, Reinbek 1991.
Viivi Luik: Die Schönheit der Geschichte. Rowohlt, Reinbek 1995.
Emil Tode: Im Grenzland. Zsolnay, Wien 1997.
Karl Ristikivi: Die Nacht der Seelen. Guggolz, Berlin 2019.
A. H. Tammsaare: Wargamäe. List, Leipzig 1978; Indrek. List, Leipzig 1980; Wenn der Sturm schweigt. List, Leipzig 1983; Karins Liebe. List, Leipzig 1988; Rückkehr nach Wargamäe. List, Leipzig 1989.
Maximilian Murmann (Hrsg.): Der Herbst kommt jedes Mal zu früh ...Jüngere Literatur aus Finnland, Estland und Ungarn. Wallstein, Göttingen 2014. (die horen, 255)
Klaus E. R. Lindemann (Hrsg.): Das Leben ist noch neu: Zehn estnische Autoren. Karlsruhe, INFO-Verl.-Ges. 1992.
Ants Oras: Acht estnische Dichter. Vaba Eesti, Stockholm 1964.


Zuletzt aktualisiert: 03.11.2023

Thema: Geschichte & Kultur