Estland – eine digitale Gesellschaft

Quelle: Jarek Jõepera

Estland – eine digitale Gesellschaft

Estland ist Europas digitales Vorzeigeland – und als solches den meisten Ländern um Lichtjahre voraus. "e-Estonia" – das "e" steht für "elektronisch" – wurde zur Erkennungsmarke für die so erfolgreiche Leidenschaft im Land für alles, was vernetzt und digitalisiert ist. Zunehmend reisen europäische (und insbesondere deutsche!) Politiker in den nördlichsten baltischen Staat, um sich von den Errungenschaften – nicht zuletzt von denen auf Verwaltungsebene – inspirieren zu lassen.


Die Bürger und Politiker des Landes sind von der Effizienz des „e" gleichermaßen begeistert. Hinter Marken wie Skype, Hotmail und zuletzt TransferWise (ein Online-Überweisungsdienst, in den sogar Personen wie Richard Branson investiert haben) wurden von Programmierern aus Estland ins Leben gerufen. Estland hat den Zugang zum Internet als ein Grundrecht erklärt, verfügt über eine florierende IT-Start-up-Kultur und hat für Bürger und Unternehmen eine beispiellose Bandbreite an Leistungen der öffentlichen Hand in digitaler Form optimiert.


Das Praktische vorweg: Nützliche Reise-Apps

Like a Local ist ein Reiseführer, der von Einwohnern des jeweiligen Landes erstellt wird. Hier finden Sie die interessantesten Orte und Sehenswürdigkeiten, über die in Standard-Reiseführern nicht so viel berichtet wird und Empfehlungen – zum Beispiel für örtliche Restaurants –, die nicht von anderen Touristen stammen.

Die Tallinn Flughafen App aktualisiert ständig die Ankunfts- und Abflugzeiten der Flüge. Außerdem gibt es Hinweise, wie man sich die Zeit am Flughafen vertreiben kann.

Die Elron-App bietet alle Informationen über Zugverbindungen in Estland. Hier können Sie Fahrpläne einsehen und Fahrkarten für Züge kaufen, die in verschiedene estnische Städte fahren.

Bolt. Die Hauptfunktion der Anwendung besteht darin, eine Verbindung zwischen dem Kunden und dem Fahrer des Fahrzeugs herzustellen, das Sie an Ihr Ziel bringen wird. Die App bietet auch die Möglichkeit, Autos und Roller zu mieten. Der Bolt-Fahrer bringt Ihnen auf Bestellung hin auch Essen aus dem nächstgelegenen Restaurant.

Informationen über öffentliche Verkehrsmittel - Eesti ühistransport APK. Hier finden Sie Informationen über Fahrpläne und Routen auf einer Karte aller öffentlichen Verkehrslinien in Estland (Busse, Oberleitungsbusse, Straßenbahnen, Züge, Fähren, Überlandlinien, Stadtlinien usw.).


Apps erleichtern das Leben ...

... und sind in Estland eigentlich unverzichtbar.

Foto: Renee Altrov, Visit Estonia


Die RMK Mobile App ist eine App für Wanderungen durch Wälder und Moore. Die neue App bietet Wanderern Informationen über die nächstgelegenen Wanderwege, Camping- und Lagerfeuer-Möglichkeiten und andere Attraktionen. Im Winter kann man über die App einen Weihnachtsbaum im Staatswald finden und fällen.

Apps für die Lieferung von Lebensmitteln und Essensbestellungen sind Wolt, Bolt und Foody. Außerdem gibt es die App Menyyd.ee, die Speisekarten von Restaurants an einem Ort mit einer praktischen Suchmaschine kombiniert – allerdings bislang nur auf Estnisch.

Mit der App Mobile Parking können Sie das nächstgelegene Parkhaus finden und für einen Platz dort direkt bezahlen. Mehr als 90 % der Autos in Estland werden per Smartphone geparkt.

Obwohl viele Esten mehrere Sprachen beherrschen, freuen sie sich sehr, wenn Touristen Estnisch sprechen. Mit der Lingvist-App können Sie kostenlos hundert der nützlichsten estnischen Redewendungen lernen.

Visitestonia.com ist eine Website mit einer mobilen Version für Touristen. Sie enthält alle Informationen, die ein Tourist braucht, Routen für unabhängige Reisen, Informationen über Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten.


Das digitale Estland: Wie alles begann

Im Jahr 1991, als Estland wieder unabhängig wurde, nahm dies alles seinen Anfang. Die Politiker des Landes hatten das seltene Glück, im Hinblick auf die Bürokratie bei „0" anfangen zu können. Sie vertrauten einfach den expandierenden Möglichkeiten des Internets und der Bedeutung von Innovation und führten das Land in die Position einer der fortschrittlichsten eGesellschaften der Welt.

Heute denkt niemand in Estland reumütig an die „guten alten" Zeiten zurück – verfügt man doch über eine große Bandbreite an e-Anwendungen. Der estnische Staat bietet seinen Bürgern derzeit 600 und seinen Unternehmen 2.400 e-Dienste. Und wer zu der großen Zahl an Landsleuten zählt, die ihren in Estland entwickelten elektronischen Personalausweis (die ID-Karte, die als Online-Pass dient) einsetzt, der kann:

  • Verträge online unterzeichnen (ohne sich also zum Ort des Vertragsschlusses begeben zu müssen)
  • mit seiner ID-Karte Fahrkarten für den öffentlichen Verkehr bezahlen
  • mit seinem Mobiltelefon Parkgebühren bezahlen
  • online wählen
  • Bankgeschäfte online vornehmen
  • digitale Rezepte von Ärzten abrufen, also ohne sich hierfür in eine Praxis oder Klinik begeben zu müssen
  • Steuererklärungen online abgeben
  • als Student seine Studienmaterialien, Studienfortschritte und auch Studienresultate im Internet abrufen
  • innerhalb von 18 Minuten an ihrem eigenen PC eine neue Firma gründen
  • staatliche Fördergelder (z. B. Elterngeld) beantragen.

Die digitale Gesellschaft e-Estonia wurde in weiten Teilen dadurch möglich, dass die Infrastruktur des Landes sehr dezentral entwickelt wurde – eine verbundene Reihe von Netzwerken und nicht ein einziges komplexes Programm. Dank der Flexibilität dieses Open-set-up konnten im Laufe der Jahre neue Komponenten entwickelt und hinzugefügt werden, und es war nicht erforderlich, die bestehenden Anwendungen kostenaufwändig zu aktualisieren.

Die ID-Karte kann bei praktisch allen innovativen e-Diensten in Estland eingesetzt werden. Sie können sich identifizieren und digital unterzeichnen. Dies ist durch den estnischen Gesetzgeber juristisch abgesichert und eine digitale Unterschrift ist rechtswirksam. Zur bestmöglichen Gewährleistung der Sicherheit werden die Daten hoch verschlüsselt und lediglich eine ganz geringe Menge an personenbezogenen Daten werden auf der Karte gespeichert. Verloren gegangene Karten können unkompliziert für ungültig erklärt werden und in mehr als einem Jahrzehnt wurde nicht ein einziger Fall von Missbrauch gemeldet!


WiFi überall

Dieses Land ist also lückenlos angeschlossen – daher ist es keine Überraschung, dass Sie praktisch überall kabellos ins Internet können, und das fast immer kostenlos und mit kurzen Ladezeiten. Kabelloses Internet finden Sie an den meisten öffentlichen Orten wie Parks, Plätze, Kneipen, Cafés, Restaurants, Flughäfen, Züge, Busbahnhöfe und häufig haben Sie sogar dort Zugang, wo Sie es am wenigsten erwarten, nämlich am Strand oder im Wald. Derzeit werden Pläne umgesetzt, im Land die nächste Breitband-Generation mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von bis zu 100 Mbit/s einzuführen.

Der Fortschritt des Landes in diesem Bereich bleibt natürlich nicht unbemerkt und gerade aufgrund des Erfolgs bei Transparenz und Zugang wurde Estland zu einem Spitzenreiter der e-Governance. Eine Position, mit der man mithalten möchte, und verschiedene Nichtregierungsorganisationen wie das EGovernance Academy Centre fördern die Zusammenarbeit zwischen Estland und anderen Ländern, insbesondere in Mittel- und Osteuropa sowie in Afrika.

Andere Möglichkeiten, wie Estland andere Länder an seinem Erfolg teilhaben lässt, ist das e-Residency-Programm. „Über e-Residency kann jeder Bürger der Welt eine behördlich gewährte digitale Identität und so die Möglichkeit erhalten, über das Internet eine Firma zu leiten und sein ganzes unternehmerisches Potenzial weltweit zu entfalten", so Kaspar Korjus, Programme-Manager des e-Residency-Programms. 


Freiheit ist kein Mythos

Millennials und Angehörige der Gen Z lieben die Unabhängigkeit und Estland liebt Unternehmergeist – da treffen zwei perfekt passende Kosmen aufeinander. Immer mehr junge Menschen entscheiden sich gegen die klassischen Ausbildungen und Berufslaufbahnen und für einen flexiblen Lebensstil. Als Freelancer – im IT-, Text- oder Designbereich zumeist – sind sie nicht auf einen festen Wohnort angewiesen und können von überall und zu jeder Uhrzeit arbeiten.

Mobiles Büro am Strand

Wo man heute arbeitet, wird im digitalen Zeitalter zunehmend egal

Foto: Renee Altrov, Visit Estonia

Estland zieht diese Generation magisch an. Denn hier hat man die Zeichen der Zeit früh erkannt. Einen großen Teil der öffentlichen Verwaltung – es sollen über 90% sein – hat man ins Internet verlagert: Estnische Bürger können so ziemlich alles per Mausklick und in wenigen Minuten erledigen, wofür der Rest der Europäer sich noch in eine Schlange auf dem Amt stellen oder komplizierte Formulare ausfüllen muss (Stichwort „Steuererklärung"). Und mit der so genannten „E-Residency" lockt der dynamische nordische Staat viele der jungen Digitalnomaden, aber auch gestandene Unternehmer an, die auf diese Weise sehr unbürokratisch und schnell ein Gewerbe anmelden und international tätig werden können.

50.000 Menschen aus 157 Ländern haben bereits die estnische E-Residency beantragt. Wenn dem Antrag stattgegeben wird, erhalten sie in einer estnischen Botschaft ihrer Wahl eine ID-Card, die Zugang zu digitalen Dienstleistungen des Staates gewährt. Unternehmensgründungen und Beglaubigungen von Dokumenten werden so zu völlig problemlosen Akten, die man schnell noch vor dem Mittagessen erledigen kann und die keine physische Präsenz voraussetzen.


Kreativität und Unternehmergeist

Estland verfügt über eine junge und dynamische Startup-Szene

Foto: Tõnu Tunnel, Visit Estonia


Viele bekannte Anwendungen haben ihren Ursprung in Estland

Estland ist so etwas wie der digitale Schrittmacher Europas. Viele Konzepte, Anwendungen und neue Unternehmen, die inzwischen weltweit in alltäglicher Benutzung sind, haben hier ihren Ursprung: Skype zum Beispiel und Transferwise. Aber auch Bolt (ehemals Taxify – ein Uber-Mitbewerber), Jobbatical, Toggl und Speakly. Die estnische Hauptstadt Tallinn wimmelt gewissermaßen von StartUps, die sich nichts weniger vorgenommen haben als die Welt zu verändern. Und selbst, wenn das nur den wenigsten gelingen wird: Es ist die positive, optimistische, kreative und nach vorne gerichtete Stimmung, die das Land so attraktiv macht.


E-Residency

Die ID-Karte, die Unternehmergeist fördert

Foto: Visit Estonia


Skype – eine frühe Erfolgsgeschichte des digitalen Estlands

Für die meisten Menschen bot Skype erstmals die Möglichkeit der Video-Telefonie. Plötzlich konnte man mit Freunden, Familienmitgliedern und Geschäftspartnern weltweit kommunizieren und sich dabei in Echtzeit wechselseitig sehen.

Inzwischen wurde Skype zunächst an ebay, später (2011) dann an Microsoft verkauft. Trotzdem sitzen 44% aller Mitarbeiter nach wie vor in den estnischen Städten Tallinn und Tartu und das Unternehmen wurde im Laufe der Jahre zu einer Art Praxis-Hochschule für estnische UnternehmerInnen. Viele der aktuell im digitalen Segment tätigen Unternehmen in Estland wurden von früheren Skype-Mitarbeitern gegründet und etliche Investoren, die bis heute die estnische Startup-Szene fördern, stammen ursprünglich aus diesem Stall.

Inzwischen gibt es natürlich viele Konkurrenzprodukte, aber Skype hält nach wie vor einen großen Marktanteil und ist auch bei Business-Globetrottern aller Couleur noch immer sehr beliebt.


Die digitale Welt ist wahrhaft global

Örtliche Unabhängigkeit, Grenzenlosigkeit, Kreativität: Digitale Errungenschaften machen Menschen zu Weltbürgern

Foto: Renee Altrov, Visit Estonia


Wise – Prototyp der estnischen Startup-Mentalität

Die Geschichte des Peer-to-peer-Devisentauschdienstes Wise (Transferwise) beginnt mit zwei estnischen Freunden: Taavet und Kristo. Taavet war einer der ersten Skype-Mitarbeiter, lebte und arbeitete inzwischen in London, erhielt sein Honorar jedoch in Euro auf sein estnisches Konto. Sein Freund Kristo, der ebenfalls in London lebte und arbeitete, wurde von seinem Arbeitgeber in Pfund bezahlt, hatte jedoch in Estland eine Hypothek in Euro zu tilgen.

Die beiden beschlossen, sich auf privater Basis zu helfen und den Banken ein Schnippchen zu schlagen: Taavet zahlte jeden Monat einen bestimmten Betrag in Euro auf Kristos Euro-Konto in Estland, während Kristo auf Taavets britisches Konto einen Teil seines monatlichen Verdienstes in Pfund überwies. Man rechnete zum normalen Tages-Wechselkurs um und sparte so die horrenden Bankgebühren für Auslandsüberweisungen. Es dauerte nicht allzu lang, bis die Freunde sich sicher waren, dass das Konzept auch für andere Menschen interessant sein könnte. Sehr zu Recht – Wise war geboren.

Das Unternehmen expandierte schnell. Heute hat es den Anspruch, stets das beste und günstigste Business-Tool für Menschen zu sein, die Geld über Grenzen transferieren. Vor Kurzem hat Wise ein "grenzenloses" Konto auf den Markt gebracht, das neben Kreditkarte und Online-Überweisungstool die Möglichkeit bietet, in über 30 Länder gebührenfrei Geld zu senden.


Das digitale Estland während der Corona-Pandemie

COVID-19 hatte Europa lahmgelegt. Ganz Europa? Nein! Ein kleiner sympathischer Staat im Norden stemmte sich mit digitalen Mitteln gegen die Krise. Estlands hoher Digitalisierungsgrad erwies sich dabei als enormer Vorteil.


Das Leben ging weiter – dank digitaler Optionen

Estland ist besser gerüstet als viele andere Staaten

Foto: Renee Altrov, Visit Estonia

Die estnische Gesellschaft hatte einige Mittel an der Hand, um die Folgen der Krise zumindest deutlich zu mildern.

Während beispielsweise Iran ein Verfassungsreferendum absagen musste und auch in Deutschland viele Kommunalwahlen verschoben wurden, konnten die Bürger in Estland weiterhin problemlos abstimmen, denn hier wählt man schon seit Jahren online. Auch Home-Office ist im Land seit Langem eher die Regel als die Ausnahme und so gut wie überall zumindest jederzeit möglich, was die Infrastruktur betrifft – dazu gehört natürlich auch der Umstand, dass es in ganz Estland kaum einen Winkel gibt, an dem man keinen Internetempfang hat.

Vorträge und Keynote-Speeches, die aufgrund von Versammlungsverboten nicht, wie geplant, vor Präsenzpublikum stattfinden konnten, wurden stattdessen gestreamt. Diskussionen fanden mittels interaktiver Videochat-Formate statt. Viele Museen in Estland haben virtuelle Rundgänge im Angebot, die nun auch online zugänglich gemacht werden konnten.


Digitaler Unterricht und ein solidarisches Angebot

Estland teilte seine Fernunterrichtsmaterialien mit Europa

Foto: Renee Altrov, Visit Estonia

Seit einigen Jahren werden sämtliche Lernmittel für Schülerinnen und Schüler in Estland digitalisiert; man war damit zu Beginn der Pandemie bereits ziemlich weit fortgeschritten und konnte den Prozess bald zum Abschluss bringen. Das kam sehr gelegen, denn auch in Estland waren die Schulen streckenweise geschlossen. Anders als andernorts, wo man auf Homeschooling umstellen musste, sich dabei aber notgedrungen eines E-Mail-Verteilers bediente und darauf beschränken musste, Dateien hin und herzuschicken, konnte Estland den Schülern auch zu Hause einen attraktiven Unterricht zu Verfügung stellen.

Und nicht nur den estnischen. Das estnische Bildungsministerium hatte früh beschlossen, die zu Verfügung stehenden Fernunterrichtsmaterialen allen europäischen Bildungseinrichtungen zu Verfügung zu stellen – kostenlos.


Eine veränderte Welt

Die Corona-Krise hat in vielerlei Hinsicht die Welt verändert – auch und gerade in digitaler und auch dort, wo das bislang misstrauisch beäugt oder ganz abgelehnt worden ist. Home Office ist eine zumindest flächendeckend mögliche und allgemein akzeptierte Arbeitsform geworden, der Netzausbau wird massiv vorangetrieben; die Verwaltungen machen immer mehr Dienstleistungen online verfügbar.

Estland hatte mit dieser Veränderung dankenswerterweise schon lange begonnen und wirkt seither an vorderster Front an der Entwicklung einer Gesellschaft von morgen mit, die für den Menschen und Bürger vieles einfacher machen kann.


Zuletzt aktualisiert: 04.09.2023