Auf den Spuren deutsch-baltischer Geschichte

Quelle: Mariann Liimal, Visit Estonia

Auf den Spuren deutsch-baltischer Geschichte

Die Deutsch-Balten haben über Jahrhunderte zur Entstehung des heutigen Estlands beigetragen. Zu wichtigem Teil als regionale Oberschicht, was das Verhältnis zu den autochthonen Esten manchmal schwierig und am Ende eigentlich unmöglich machte. Dennoch sieht man diese Epoche auch im heutigen Estland mit anderen Augen – und zwar wohlwollenderen – als in früheren Tagen.


Die Herkunft der Deutsch-Balten ist vielfältig und im Detail bis heute nicht vollständig geklärt; dass es sich um ursprünglich Deutsche handelt, die ab dem Mittelalter in den Nordosten Europas zogen, ist hingegen unstrittig. Viele – auch das ist klar – stammten aus dem deutschen Norden: dem heutigen Schleswig-Holstein und Niedersachsen.

Die anfängliche Bildung von so etwas wie einer deutsch-baltischen Volksgruppe ist mit den Kämpfen verbunden, die im heutigen Estland und im heutigen Lettland zu Beginn des 13. Jahrhunderts stattgefunden haben und die in Heinrichs Livländischer Chronik umfassend beschrieben worden sind. Somit sind es mehr als 700 lange Jahre, in denen die Deutsch-Balten auf dem Gebiet des heutigen Estlands siedelten. Dass sie die dort über die Jahrhunderte entstandene Kultur mitprägten, ist schon deshalb selbstverständlich.


Die Deutsch-Balten in Estland: Bleibende Beiträge zur estnischen Kultur

Mit ihrer weiterhin gepflegten eigenen Kultur und ihrem erst ganz allmählich aufkeimenden Selbstverständnis als eigene Volksgruppe lebten die Deutsch-Balten jahrhundertelang auf dem heutigen Gebiet Estlands neben und mit den Esten und waren ein wesentlicher Bestandteil der estnischen Kulturgeschichte. Insbesondere seit der Aufklärung (valgustusaeg auf Estnisch) spielten sie eine zunehmend wichtige Rolle bei der Kartierung, Erfassung und Erhaltung der estnischen Kultur und ihrer kulturellen Werte.


Gasse in Tallinn

Die Hauptstadt wurde von der Tradition der Hanse geprägt 

Foto: EAS, Visit Estonia


Durch die systematische Erforschung des deutsch-baltischen Kulturerbes während der vergangenen Jahrzehnte wird allmählich deutlich, dass und wie Estland schon seit Jahrhunderten in den europäischen Kulturraum integriert ist – und auch, übrigens, wie dieser europäische Einfluss im Gebiet des heutigen Estlands über eine sehr lange Zeit den russischen Einfluss und Anspruch zurückdrängen konnte.

Das lag auch an der Hanse – jener bekannten Vereinigung norddeutscher Kaufleute, die zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert einen maßgeblichen Einfluss nicht nur auf die Wirtschaft ausübte. Sowohl Estlands heutige Hauptstadt Tallinn (damals Reval) als auch die zweitgrößte Stadt Tartu (damals Dorpat) wurden auf Betreiben deutsch-baltischer Kaufmannsfamilien Hansestädte und blieben das auch für eine relativ lange Zeit. Damit war ein Großteil des Gebietes des heutigen Estlands schon früh in den fortschrittlichen innereuropäischen Waren-, Wissens- und Kulturaustausch eingebunden und die Einwohner profitierten davon immens.


Auch Tartu war einst Hansestadt

Blick vom Brunnen der küssenden Studenten auf den Rathausplatz

Foto: Meelis Lokk, Visit Estonia



Auch auf sprachlicher Ebene sind etliche bleibende Einflüsse erkennbar. Im Estnischen gibt es etliche Lehnwörter aus dem Deutschen. Man zählt rund 800 Wortstämme aus dem Niederdeutschen und 500 aus dem Hochdeutschen, die im Estnischen Verwendung finden.


Architektur: Gutshöfe und Stadtpalais

Und dann gibt es natürlich die physischen Relikte dieser Zeit, die vor allem aus Bauwerken bestehen. Denn natürlich prägte sowohl die Architektur der Hanse als auch die in den jeweiligen Phasen übliche europäische Schlossarchitektur die Wohn- und Repräsentationsgebäude, die in Estland über die Jahrhunderte und mit zunehmendem Wohlstand errichtet wurden.

Am bekanntesten sind die zahlreichen Gutshöfe – vor allem im Norden Estlands – mit ihren großzügigen Herrenhäusern. Erstaunlicherweise haben sie die lange Sowjetzeit zwar nicht schadlos, aber immerhin überhaupt überstanden. Viele von ihnen sind heute sorgsam saniert, dienen als Schulen, Seniorenheime oder öffentliche Kultureinrichtungen. Etliche beherbergen aber auch privat betriebene Hotels und Restaurants, meist mit einem sehr gediegenen Ambiente.

Aber nicht nur auf dem Land sind architektonische Perlen entstanden; auch in der City wurden Patrizierhäuser und Palais gebaut und prägen bis heute das Stadtbild. Eines der beeindruckendsten Exemplare ist sicherlich das Von Stackelberg-Palais in der Hauptstadt Tallinn. 1873 von dem deutsch-baltischen Baron Georg von Stackelberg als private Residenz errichtet, ist es heute ein exquisites Wellness- und Tagungshotel.


Adel und Bürgertum: Ein Narrativ verändert sich

Aber auch wenn Adel und Großbürgertum die Geschichte der Deutsch-Balten in Estland tatsächlich historisch dominierten – ein Irrtum hält sich bis heute hartnäckig, selbst in manchen deutschen Universitäten: Denn die deutsch-baltische Bevölkerung bestand längst nicht nur aus dieser Oberschicht. Es gab zahlreiche ganz normale deutsch-baltische Bürger, die als Arbeiter, Angestellte und Landwirte tätig waren.

Wichtig ist dieser Umstand, weil er das Narrativ durchaus ein bisschen verändert, das die Geschichte der Deutsch-Balten in Estland über Jahrzehnte geprägt hat. Das deutschbaltisch-estnische Verhältnis war zwar durchaus maßgeblich ein solches der sozialen Kluft, aber eben längst nicht nur. Was lange Jahre als reine kulturelle Hegemonie mit Okkupationstendenz begriffen wurde – die machtlosen Esten als Untertanen auf der einen Seite, die deutsch-baltische Oberschicht als Herren auf der anderen – wird inzwischen etwas gerade gerückt. 


Hansetage in Pärnu

In den ehemaligen Hansestädten Estlands wird heute regelmäßig der Hanse-Zeit gedacht – mit großen Festen und Umzügen.

Foto: Visit Pärnu


Zum einen eben deshalb, weil die Deutsch-Balten keineswegs nur in der Oberschicht vertreten waren, zum anderen, weil das scheinbare Gegeneinander sich zusehends und auch vor dem Hintergrund der später folgenden Zeit unter einer tatsächlichen Okkupation (nämlich der russischen im Rahmen der Sowjetunion) als ein Miteinander entpuppt – zumindest, was die erquicklichen Folgen für Kultur und Wirtschaft Estlands betrifft.

Übrigens: Bisweilen wurden die Kategorien „deutsch-baltisch" und „estnisch" gar nicht als solche der ethnischen Herkunft verwendet, sondern gleich sozial gemeint. Wenn man als Este das Glück hatte, aufzusteigen – das war selten, aber es kam vor –, wurde man Deutscher, während Deutsch-Balten, die gesellschaftlich abstiegen, schlussendlich Esten wurden – und wenn noch nicht sie selbst, dann zumindest ihre Kinder. In Tartu sprach man – auch als ethnischer Este – in den gepflegten Einkaufsgeschäften Deutsch, während draußen vor der Tür, auf dem Markt, Estnisch gesprochen wurde.


Das Ende des gemeinsamen Weges

Mit zunehmendem estnischen Selbstbewusstsein am Beginn des 20. Jahrhunderts rückte – vielleicht unvermeidlich, vielleicht nicht – auch die Stunde näher, an dem die jahrhundertelangen gemeinsamen Wege sich trennen sollten. Die Esten besannen sich auf ihre kulturellen Gemeinsamkeiten, ihre Sprache und ihre Wurzeln als Volksgruppe, begehrten nach staatlicher Unabhängigkeit (1918 schließlich erstmals erfolgreich) und begannen auch die Beziehung zur deutsch-baltischen Oberschicht zu hinterfragen.


Der erste Unabhängigkeitstag anno 1919

Foto: Wikimedia Commons


Das ist vollkommen verständlich, denn: Ja, alles oben relativierend Geschriebene will nicht darüber hinwegtäuschen, dass genau das tatsächlich der Fall gewesen ist: die Deutsch-Balten stellten die einflussreiche Klasse an der Spitze der Gesellschaft.

Im Zuge der revolutionären Ereignisse während des Ersten Weltkrieges und im benachbarten Russland kam es auch in Estland zur Enteignung von Großgrundbesitzern – darunter viele Deutsch-Balten.

Trotzdem ist die große Frage, die allerdings nur spekulativ beantwortet werden könnte: Was wäre dann weiter geschehen, wenn sich nicht unterdessen auch in Deutschland ein zunehmendes völkisches Selbstbewusstsein gebildet hätte, das sich allerdings schon bald als ganz anders gelagert herausstellen sollte denn das aufkeimende estnische: als aggressiv und raumgreifend nämlich.


1930 erschien die "Dorpater Zeitung" noch auf Deutsch

... und die Deutsch-Balten wehren sich, wie in diesem Leserbrief vom 16. Dezember 1930, gegen die "Estnifizierung". – Von heute aus betrachtet wirkt das ziemlich hysterisch.

Foto: Privatsammlung, Visit Estonia



Was de facto passiert ist, wissen die Geschichtsbücher: Nicht wenige Deutsch-Balten parierten die immer lauter werdende Forderung der Esten nach Besinnung auf die estnischen kulturellen Wurzeln und nach dem öffentlichen Gebrauch der estnischen Sprache (an der Universität in Dorpat, dem heutigen Tartu, wurde von 1802 bis 1889 und noch einmal in den Jahren 1918-19 Deutsch gesprochen; es gab deutsche Tageszeitungen – kurz: „Man" sprach Deutsch) mit einer zumindest heute ziemlich hysterisch anmutenden Widerrede. Man fühlte die (nun plötzlich explizit) deutsche Kultur bedroht, man fühlte sich selbst als Deutscher bedroht (der man bis gestern noch gar nicht so ohne Weiteres gewesen war) usw.

Kurz: die Dinge schaukelten sich hoch – und zwar so hoch, dass die meisten noch verbliebenen Deutsch-Balten dem nationalsozialistischen Umsiedelungsaufruf 1939 im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes und unter dem Motto „Heim ins Reich!" freiwillig Folge leisteten. Etliche hatten Estland schon in den Zwanzigerjahren verlassen. 1941 gab es noch eine Nachumsiedelung und mit ihr endete die 700-jährige deutsch-baltische Geschichte auf dem Gebiet des heutigen Estlands.



Zuletzt aktualisiert: 23.02.2024

Thema: Geschichte & Kultur