Mit Jürgen Sorges unterwegs in Estlands "Wildem Osten“

Quelle: Aaron Urb, Visit Estonia

Mit Jürgen Sorges unterwegs in Estlands "Wildem Osten“

Text:

Jürgen Sorges


Für das Genuss-Magazin „Kulinariker" war der Reisejournalist Jürgen Sorges im weniger bekannten Osten Estlands unterwegs. Das nordische Land geht dort in einen riesigen See über – den Peipussee, einen der größten Binnenseen Europas, sieben Mal so groß wie der Bodensee. Mitten im See verläuft die Grenze zu Russland und an der estnischen Küste siedeln seit dem 17. Jahrhundert die so genannten Altgläubigen. Sie hatten sich damals der Reform der Russisch-orthodoxen Kirche widersetzt und am Peipussee Zuflucht gefunden. Jürgen Sorges' Text erscheint bei uns mit freundlicher Genehmigung von Autor und Magazin.


Als "Puhitsetud", "heilig, gesegnet", wird seit alters her jener Ort zwischen Estlands Ostseeküste und dem viertgrößten See Europas, dem gigantischen Peipussee gerühmt, der das Dörfchen Kuremäe (280 Einw.), übersetzt "Storchenberg", auch heute zur Topattraktion in Estlands "Wildem Osten" macht.

Etwa 20 km südlich von Jõhvi, der Hauptstadt des estnischen Bezirks Ida-Virumaa und hart an der EU-Außengrenze zu Russland steht ein spektakuläres, perfekt restauriertes, für jedermann zu besichtigendes Kirchenbau-Ensemble: Das Nonnenkloster Pühtitsa, deutsch Püchtitz verdankt seinen Namen eben jenem sehr viel älteren "Puhitsetud", dem "heiligen, gesegneten" Ort aus sehr viel älterer Zeit. Dieser herausragenden Wohnstatt russisch-orthodoxen Glaubens sollte man in jedem Fall die Aufwartung machen.

Abendstimmung am Peipus-See

Foto: Magnus Heinmets, Visit Estonia

Dann locken die wogenden Wellen des riesigen Binnenmeers des Peipussees, estnisch Peipsi Järv. Siebenmal größer als der Bodensee, verläuft hier die EU-Außengrenze zwischen Estland und Russland im Seewasser. Besonders das estnische Nordufer des Peipussees hat sich dank des über 30 km langen Sandstrandes und günstigster Wassertemperaturen zum attraktiven Touristenziel gemausert, das im Dörfchen Kauksi auch seit 1961 gewachsene Infrastruktur bietet.

Der nördliche Abschnitt des Westufers dieses Süßwassermeeres, dessen einziger Abfluss nach Norden die Narva ist, führt dann zu jenen Dörfern und Siedlungen, die von um 1650 aus Russland zugewanderten sogenannten Altgläubigen bewohnt werden. Sie wähnten sich damals durch die Kirchenreformen ihres Patriarchen Nikon und des Zaren Alexei Mikhailovitch gegängelt und flohen ins damals schwedische Estland. Hier am Peipussee lebten sie im Exil fortan bescheiden von Fischfang und Landwirtschaft.

Berühmt sind diese Dörfer bis heute für den Anbau besonders intensiv mundender Zwiebeln. Daher verbindet nun die "Zwiebelroute" nicht nur die bedeutendsten historischen und kulturellen Sehenswürdigkeiten dieser Gegend, sondern führt auch zu Märkten, Cafés und Restaurants, in denen dem reichen kulinarischen Erbe am Peipussee nachgespürt werden kann.

Auf der Zwiebelroute am Peipus-See

Foto: Magnus Heinmets, Visit Estonia

Erst einmal verlangt aber "Puhitsetud", der "heilige, gesegnete Ort", die volle Aufmerksamkeit. Auch für ein nahezu völlig unbekanntes Volk oder besser noch Völkchen von nur noch – Stand 2010 – maximal 73 Menschen, die beinahe auch noch zur EU gehören: die Woten.

Das kleine Kuremäe (Storchenberg) lockt mit seinen fünf Seen Puhatu Järv, Puhatu Martiska Järv, Pahanselja Järv, Viinamardi Järv und Korponi Järv im Jahreslauf vor allem Erholung suchende Wanderer und Angler an. Aber der Grund für den riesigen, neu angelegten Parkplatz etwa einen Kilometer vor dem Ort ist natürlich ein anderer: Hier parken Besucher des Nonnenklosters Pühtitsa. Und dies sind viele. Häufig rangieren gleich mehrere Busse auf dem Areal mit Toiletten und Waschgelegenheit, an dessen Rand ambulante Händler religiöse Devotionalien, Souvenirs, aber auch Hausschuhe, Gehäkeltes und sogar Lebensmittel anbieten.

Hier startet der gut ausgebaute Weg zum Kloster, das nun häufiger auch estnisch als Kuremäe Klooster, englisch als Kuremäe Monastery firmiert. Gewiefte biegen am Weg direkt nach rechts ab, denn so ist es nur ein kurzes Stück zur heiligen Klosterquelle, wo man sich mit wundertätigem Heilwasser versorgen kann. Manche baden sogar an dieser uralten Opferquelle eines wohl estnischen Hainortes. Das wandert dann flaschen- oder gar kanisterweise in den Kofferraum.

Das Nonnenkloster Pühtitsa / Kloster Kuremäe

Foto: Foto: Ida-Virumaa Turismiklastri fotopark, Visit Estonia

Doch natürlich müsste man erst einmal dem Kloster die Aufwartung machen, das Kirchenschiff der mit fünf Zwiebelkuppeln gekrönten grünen Türme der 1908 bis 1910 von Mikhail Preobrazhensky im neobyzantinischem Stil erbauten Konvent-Kathedrale betreten und Andacht halten. Die meisten machen dies auch, folgen dem Pfad vorbei an gepflegten historischen Holzbauten hinein ins Dorf, wo ein großes Schild auf den nächsten Internet-Anschluss und den örtlichen Arzt ("Arst") hinweist.

Kuremäe/Storchenberg besitzt auch eine Bushaltestelle im Dorfzentrum, die weitere Pilger nutzen. Im Dorf öffnet nun sogar ein Hostel mit Gaststätte und angrenzendem Eisladen. Gegenüber ist das alte Schulhaus perfekt restauriert. Nun privat bewohnt, geht Kuremäes Grundschule auf die erste Klosterschule von 1885 zurück. Natürlich war damals Ziel und Zweck dieser Schule, Russisch und den Russisch-orthodoxen Glauben vermehrt zu verbreiten. Doch es zeigte sich rasch, dass auch viele protestantisch-lutherische Schüler die Grundschule nutzten.

Hübsch renoviertes Holzhaus in Kuremäe

Foto: Jürgen Voolaid, Visit Estonia

An der Klosterstraße folgen weitere Gaststätten und Läden, ehe zur Rechten der alte Klosterfriedhof auftaucht. Gleich am Zugang steht unter Nadelbäumen eine Tsässon, eine kleine, tagsüber von jungen Damen betreute russisch-orthodoxe Holzkapelle, die an den Gründungsmythos des Klosters erinnert. Denn gleich nebenan soll hier im 16. Jh. eine wunderbare Marienerscheinung stattgefunden haben und sogar eine heilige Ikone am Fuße einer Eiche entdeckt worden sein, die bis heute im Klosterbesitz ist. Tatsächlich ragt hier eine uralte Eiche meterhoch gen Himmel. Umzäunt, steht sie als heiliger Ort unter rigorosem Denkmalschutz. Doch viel erhalten ist von ihr nicht. Blätterdach und Krone fehlen, geblieben sind nur Stumpf und Stamm.

Die Woten

Mindestens seit 1608 ist für diesen heiligen Ort Pühtitsa eine orthodoxe Gebetsstätte nachgewiesen. Doch schon zuvor dürfte hier ein kleines Völkchen gebetet haben, von dem heute nur noch einige Dutzend Mitglieder geblieben sind: die eng mit den Esten verwandten Woten, die sich selbst "Vadjalain" bzw. "Vadjakko" nennen, russisch als "Vodj" bekannt sind und heute im westlichen Teil des Rayons Leningrad, also hart an der Grenze zu Estland leben. Dies einst auch von Schweden besetzte Gebiet hieß auch mal Ingermanland, davor aber Watland, Vatland oder Watlandia – das Land der Woten, das lange zur Republik Nowgorod gehörte.

Hier an dieser Eiche also soll der Stamm der Woten, der traditionell schon früh zum orthodoxen Christentum zählte, einen heiligen Ort besessen haben. Schon zwischen 1440 und 1450 hatte eine vom Deutschen Orden initiierte Zwangsumsiedlung von 3000 Woten und Ischoren nach Lettland für Aufregung gesorgt. Danach sorgten zig Kriege und der Lauf der Zeit für die Verlagerung dieses deutsch auch Tschuden bzw. Narova- und Narva-Tschuden genannten fenno-ugrischen Volkes weiter gen Osten. 1848 wurden noch 1548 Woten gezählt, 1926 waren es noch 705.

Heute sorgt man sich um die wotische Sprache und Kultur, auch in Estlands neuem Nationalmuseum in Tartu. Großartig sind dann die Gräberreihen des Nonnenfriedhofs mit ihren in der Sonne glänzenden Metallkreuzen. Vorbei an den weit und breit wohl gepflegtesten Äckern überhaupt gelangt man zum monumentalen Torturm des der Gottesmutter geweihten Klosters. Hier leben derzeit ca. 100 orthodoxe Nonnen, unterstützt von Laien sowie von Gärtnern und weiterem Personal.

Die wunderbaren Fresken im Durchgang des Klostertors erzählen erneut von Marienerscheinung und Auffindung der wundertätigen Ikone, beeindrucken aber am meisten mit ihren herrlichen Engelsdarstellungen. Natürlich muss man sich im Klosterbereich der Kleiderordnung anpassen sowie Messen und Andachten respektieren. Dann kann auch die Klosterkathedrale, eine von sechs Kirchen des Konvents, besichtigt werden. Gegen einen kleinen Obolus finden auch Führungen statt. Ein kleiner Laden offeriert Kerzen und Devotionalien.
Beeindruckend sind neben dem außerordentlich gepflegten Zustand sämtlicher Häuser, der Gärten und des Parks der Anlage, deren Bau 1888 beschlossen und ab 1891 bis 1910 realisiert wurde, zwei mächtige, nach traditioneller Art über sieben Meter hoch gestapelte Holzscheithaufen nahe dem Wirtschaftshof. Beeindruckend ist auch die Klostergeschichte. Denn neben dem von Mönchen bewohnten Höhlenkloster von Pskov-Pechory, das auf russischer Grenzseite im Grenzort Pechory liegt und ein Wallfahrtsort auch für die am südlichen Peipussee lebenden Menschen von Setomaa, die Setukesen ist, war das Nonnenkloster Püchtitz das einzige, das während der gesamten Zeit der Sowjetunion durchgängig betrieben wurde.

Mehr als nur eine Randnotiz ist indes, dass schon der Bau dieses ersten orthodoxen Klosters auf estnischem Boden um 1891 den Widerstand des protestantisch-lutherischen deutschbaltischen Landadels auf den Plan rief, der eine "Russifizierung" fürchtete. Und ein Menetekel der Geschichte ist auch, dass das Kloster im 2. Weltkrieg als deutsches Kriegsgefangenlager für Angehörige der Roten Armee diente...


Lesen Sie hier den Original-Beitrag von Jürgen Sorges auf kulinariker.de
Und hier geht es zum zweiten Teil des Reiseberichts.

Zuletzt aktualisiert: 08.04.2019

Thema: Südestland, Geschichte & Kultur