Wer sind die Altgläubigen am Ufer des Peipus-Sees?

Quelle: Viktoria Arro, Visit Estonia

Wer sind die Altgläubigen am Ufer des Peipus-Sees?

Eine der faszinierendsten kulturellen Sehenswürdigkeiten auf der Fahrt entlang des Peipus-Sees sind wahrscheinlich die dicht stehenden Häuser der Straßendörfer, in denen das Leben ein wenig anders ist als im übrigen Estland. Dort, in den Dörfern Varnja, Kasepää, Sofia und Kolkja, leben zahlreiche Altgläubige – eine Minderheit, deren Aktivitäten und Traditionen es wert sind, sich mit ihnen zu beschäftigen. Warum leben sie überhaupt hier in Estland, und was ist das Besondere an ihnen?


Die Altgläubigen sind eine religiöse Bewegung, die sich von der Russisch-Orthodoxen Kirche abgespalten hat, weil sie die Reformen nicht mitmachen wollten.

Die ersten russischen Altgläubigen kamen Ende des 17. Jahrhunderts an die Ufer des Peipus-Sees. Sie waren gezwungen, aus dem zaristischen Russland zu fliehen, weil sie dort verfolgt wurden. Zar Alexej Michailowitsch Romanow vergrößerte im 17. Jahrhundert das Territorium Russlands. Um seine Macht zu stärken, setzte er durch, dass die Rituale der Kirche im ganzen Land vereinheitlicht wurden.



Wie die Altgläubigen an den Peipus-See kamen

Das Museum der Altgläubigen

Es ist den speziellen Traditionen und Bräuchen der ethnischen Minderheit gewidmet und sehr interessant.

Foto: Liina Laurikainen, Visit Estonia

Zu den Reformen gehörten Veränderungen der Liturgie und des Inhalts der Gottesdienste. Während zuvor in vielen Gegenden die "byzantinische" Form der Bekreuzigung mit zwei Fingern erlaubt war, musste sie nun mit Hilfe von drei Fingern vollzogen werden. Der Brauch, beim Gebet der Erde zu huldigen, wurde abgeschafft und vieles mehr.

Wenn man sich diese Reformen heute ansieht, klingen sie für den Nichtgläubigen nicht so furchtbar dramatisch; aber die Änderungen waren für tiefgläubige Menschen von grundlegender Bedeutung. Die neuen Rituale riefen großen Protest unter den Orthodoxen hervor; für sie kamen die Änderungen einer verordneten Abkehr vom Glauben gleich.

Als die Reformen offiziell gebilligt vollzogen waren, erklärte man die protestierenden Altgläubigen kurzerhand zu Häretikern und begann, sie zu unterdrücken. Die Verfolgung ging so weit, dass sie bei lebendigem Leibe verbrannt oder ihre Hände und ihre Zunge abgehackt wurden.

Sie flohen. Nach Polen, ins litauische Fürstentum, nach Preußen, nach Estland, in die Türkei, nach China und manche sogar nach Japan. Das Manifest zur "Religionsfreiheit", das der Verfolgung der Altgläubigen ein Ende setzte, wurde erst 1905 unterzeichnet.

Ende der 1730er Jahre entstanden an den Ufern des Peipus-Sees somit dauerhafte Siedlungen von Altgläubigen. In den dort errichteten Gesindehäusern wurden Kirchenbücher aufbewahrt, die Kinder wurden in der kirchenslawischen Sprache unterrichtet und sangen nach einer alten Notenschrift.



Die interessanten Bräuche der Altgläubigen

Der Chor der Altgläubigen von Kallaste

Foto: Visit Estonia

Heute gibt es in Estland elf russische Altgläubigen-Gemeinden mit rund 15.000 Mitgliedern. Ihre Besonderheit ist, dass einige von ihnen keinen Priester anerkennen – in ihrem Fall werden die Gottesdienste von einem Diakon geleitet, der auch eine Frau sein kann. Jeder Mensch wird dreimal getauft, und die Beichte der Sünden wird mindestens einmal im Jahr verlangt. Die Taufe und die Beichte sind zwei wichtige Sakramente, die eine grundlegende Rolle für das Seelenheil der Menschen spielen. Nach altem Brauch schlagen die Altgläubigen das Kreuz nach wie vor mit zwei Fingern und benutzen die vorreformatorischen Schriften und das Gesangbuch. Der Chorgesang in den Gottesdiensten ist einstimmig (auch das hatten die Reformatoren geändert) und verwendet eine spezielle archaische Notenschrift.

Bei den (meist langen) Gottesdiensten tragen die Altgläubigen traditionelle Gewänder: Frauen sind in lange Röcke gehüllt und sie tragen ein Stola-artiges Kopftuch, das nicht geknotet, sondern mit einer Nadel befestigt wird. Beim Beten wird eine tiefe Niederwerfung vollzogen. Eine wichtige Rolle spielen die Gebetsperlen, die aus kleinen Stoffrollen (17 Rollen zu Ehren der 17 Prophezeiungen, 33 sind die Lebensjahre Christi, 40 erinnern an die vierzig Tage des Fastens und der Versuchung in der Wüste, 12 Rollen an die zwölf Apostel) und vier dreieckigen Schriftrollen bestehen.

In besonders strengen Gemeinden ist es Männern nicht erlaubt, sich zu rasieren. Altgläubigen sind Kaffee und Tabak verboten und sie teilen Ihr Essen oder ihre Utensilien nicht mit Gästen. Bei einem Besuch muss eigenes Geschirr mitgebracht werden. Sollte das jemand vergessen haben, darf er nichts essen und kann Wasser nur aus der eigenen Hand trinken.



Ikonen, überall Ikonen – und Zwiebeln

Ikonen im Besucherzentrum des Peipuslandes

Foto: Veronika Kookmaa, Visit Estonia

Für die Altgläubigen sind Ikonen immens wichtig - diese religiösen Bilder sind wie Übermittler der Lehren Gottes und Darstellungen der himmlischen Weisheit in einer für die Menschen verständlichen Form. Alle religiösen Handlungen werden vor den Ikonen vollzogen. Wenn Sie Altgläubige besuchen, fällt Ihnen sicherlich auf, dass es in ihren Häusern von Ikonen quasi nur so wimmelt. Oft werden sie in einer bestimmten Himmelrichtung aufgestellt. Die Künstler, die die Ikonen geschaffen haben, sind den Altgläubigen nicht wichtig; es kommt nur darauf an, dass sie in einer bestimmten Weise gefertigt wurden und also den Erwartungen entsprechen. Es geht hier nicht um Kunst, sondern um Handwerk.

Obwohl es in Estland nicht mehr viele von ihnen gibt, ist das kulturelle Erbe der Altgläubigen reich und erforschenswert. Wenn Sie die Gelegenheit haben sollten: Sehen Sie sich die Ikonen einmal genau an und versuchen Sie, die Geschichte zu verstehen, die ein bestimmtes Symbol vermittelt. Die Altgläubigen von heute verehren ihre Kultur – aber mittlerweile ist es eher die Tradition, die die Menschen zusammenhält, als der Glaube.

Das Symbol ihrer Esskultur ist die Zwiebel, die in Hülle und Fülle an den Ufern des Peipus-Sees angebaut wird. Die vielleicht berühmteste Süßigkeit ist der gekochte Zucker, der einem Sahnekonfekt ähnelt – einfach unübertroffen. Wie er hergestellt wird, kann man in einem der Museen vor Ort erfahren.

Die berühmte Zwiebelstraße am Peipus-See

Für ihren Zwiebelanbau sind die Altgläubigen in ganz Estland bekannt.

Foto: Visit Tartu

Apropos: Wissen Sie eigentlich, wie ein Samowar funktioniert? Im Museum des Peipus-Landes lernen Sie es. (Sie können das übrigens auch im Estnischen Freilichtmuseum nahe Tallinn ausprobieren.) Und im Samowarhaus in Varnja können Sie die unterschiedlichsten Samoware bestaunen.

Ein Spaziergang führt Sie durch die kilometerlangen Straßendörfer Raja, Kükita, Tiheda und Kasepää, in denen sich Häuser, Gemüsegärten und Schuppen aneinanderreihen und manchmal kleine Seitenstraßen zum See führen.

Die Altgläubigen, die als Zwiebelanbauer bekannt sind, gelten seit jeher auch als gute Fischer und Baumeister. Zu den architektonischen Sehenswürdigkeiten der Region gehören auch die Gotteshäuser, in denen Sie an einem Gottesdienst teilnehmen können.



Sehenswertes und Unternehmungen:


Wenn Sie die Peipus-Region besuchen, lernen Sie Bräuche und Traditionen kennen, die fremd, aber auch heute noch lebendig sind.


Besuchen Sie Estland! Und besuchen Sie die Altgläubigen am Peipus-See!

Zuletzt aktualisiert: 24.05.2022

Thema: Südestland, Geschichte & Kultur