Anders als in Deutschland bezeichnet die so genannte "fünfte Jahreszeit" in Estland nicht die Karnevals-Saison, sondern die Zeit zwischen Winter und Frühling. Wenn Eis und Schnee schmelzen, können Bäche und Flüsse die entstehenden Wassermassen nicht aufnehmen; sie laufen über und ergießen sich in die Landschaft. Die Esten haben über die Jahrhunderte nicht nur gelernt, mit dem regelmäßigen Hochwasser umzugehen; sie nutzen ihre fünfte Jahreszeit gern für besondere Naturerlebnisse.
Etwa die Hälfte der estnischen Landfläche besteht aus Wald, dazu kommen Wiesen und Felder. Die fünfte Jahreszeit bietet eine einzigartige Gelegenheit: Man kann mit dem Kanu durch den Wald gleiten. Der Soomaa-Nationalpark ist in dieser Zeit das angesagte Ziel für solche Touren.
In der warmen Saison führt der Salajõgi-Fluss nur wenig Wasser, das im Flussbett langsam gen Ostsee rinnt. Mit Einsetzen der Schneeschmelze ändert sich das jedoch drastisch. Einige Kilometer von Linnamäe entfernt erstreckt sich ein größeres Karstgebiet bis zur Landstraße. Hier fließt der Salajõgi eigentlich unterirdisch. In der fünften Jahreszeit aber tritt das Wasser an die Oberfläche und flutet das gesamte Areal. Ein temporärer See entsteht.
Die Stadt Narva – ganz im Osten an der Grenze zu Russland gelegen – wirkt in der fünften Jahreszeit wie eine von wütenden Wassern bedrohte Insel. Die sonst kleinen Wasserstufen wandeln sich jetzt zu tosenden Wasserfällen und die ganze Stadt ist von dem wilden Rauschen umfangen.
Auch der höchste Wasserfall Estlands ist in der Übergangszeit zwischen Winter und Frühling einen Besuch wert. Die großen Eiszapfen und die vom Frost an der Felswand gebildeten Skulpturen tauen allmählich und der 30 Meter hohe Wasserfall nimmt an Volumen und Kraft zu.
Durch die Treppenkonstruktion ist er in jeder Höhe gut zu beobachten.
Foto: Kristina Ernits, Visit Estonia
Laut der estnischen Folklore quillt dieser Brunnen hin und wieder über, weil Hexen das Wasser an seiner Quelle aufwirbeln. Tatsächlich ist es so, dass der Brunnen – er ist Teil eines unterirdischen Flusses im Karstgebiet Tuhala des Öko-Reservats Nabala-Tuhala – während des Hochwassers überläuft. Sobald der Fluss mindestens 5.000 Liter Wasser pro Sekunde befördert, läuft der Brunnen mit einer Geschwindigkeit von 100 Litern pro Sekunde über. Dadurch entsteht ein Effekt, der zu den einzigartigsten Naturerscheinungen in Europa gehört. Weil der Wasserdruck durch den unterirdischen Fluss erzeugt wird, handelt es sich nicht um einen künstlichen Brunnen – das Ganze ist ein echtes Naturereignis. Dieses uralte Phänomen kann jeweils zwischen einem Tag und drei Wochen dauern. Der Brunnen ist 2,4 m tief und sein Wasser ist aufgrund seiner Moorherkunft bräunlich.