Estlands fünfte Jahreszeit

Quelle: Seikle Vabaks, Visit Estonia

Estlands fünfte Jahreszeit

Anders als in Deutschland bezeichnet die so genannte "fünfte Jahreszeit" in Estland nicht die Karnevals-Saison, sondern die Zeit zwischen Winter und Frühling. Wenn Eis und Schnee schmelzen, können Bäche und Flüsse die entstehenden Wassermassen nicht aufnehmen; sie laufen über und ergießen sich in die Landschaft. Insbesondere im Soomaa-Nationapark führt das zu massiven Überschwemmungen.

Die Esten haben über die Jahrhunderte nicht nur gelernt, mit dem regelmäßigen Hochwasser umzugehen; sie nutzen ihre fünfte Jahreszeit gern für besondere Naturerlebnisse, zum Beispiel für Kanufahrten durch den Wald. Unsere Kollegin Hillary Millán hat sich das Ganze aus der Nähe angesehen und während der fünften Jahreszeit einen Tag mit Nationalpark-Guide Aivar Ruukel im Soomaa-Nationalpark verbracht.


Wald-Kanu-Touren im Soomaa-Nationalpark

Etwa die Hälfte der estnischen Landfläche besteht aus Wald, dazu kommen Wiesen und Felder. Die fünfte Jahreszeit bietet eine einzigartige Gelegenheit: Man kann mit dem Kanu durch den Wald gleiten. Der Soomaa-Nationalpark ist in dieser Zeit das angesagte Ziel für solche Touren.

Hier finden Sie Bootsverleiher und Tourenanbieter:


Mit dem Boot durch den Wald

Foto: Sea Kayaking Estonia, Visit Estonia


Wie Sie die fünfte Jahreszeit nachhaltig erleben können

Wenn Sie den Soomaa-Nationalpark während der fünften Jahreszeit besuchen, sollten Sie Ihre Reise so nachhaltig wie möglich gestalten. Hier sind ein paar Vorschläge.

Benutzen Sie öffentliche Verkehrsmittel. Das ist vielleicht leichter gesagt als getan, aber es ist nicht unmöglich. Pärnu oder Viljandi können als Ausgangspunkt für den Besuch des Parks dienen. Pärnu ist von Tallinn aus leicht mit dem Bus zu erreichen, während Viljandi mit dem Zug erreichbar ist. Dann müssen Sie entweder mit Ihrem Reiseveranstalter einen Transport in den Park arrangieren oder einen lokalen Bus nach Soomaa nehmen, wobei die Fahrpläne allerdings begrenzt sind. Die Anmietung eines Autos ist sowohl in Pärnu als auch in Viljandi ebenfalls möglich.

Ziehen Sie in Erwägung, eine Nacht im oder in der Nähe des Parks zu verbringen. Nachdem Soomaa zum Nationalpark erklärt wurde, durften neue Bauten nur noch auf bestehenden Fundamenten errichtet werden, so dass es innerhalb der Parkgrenzen nur wenige Übernachtungsmöglichkeiten gibt. In den Dörfern außerhalb des Parks finden Sie jedoch weitere Unterkünfte. Wenn Sie sich schon die Mühe gemacht haben, in den Park zu fahren, warum sollten Sie dann nicht auch in die örtliche Umgebung eintauchen? Ein Aufenthalt in der Nähe von Soomaa unterstützt die lokale ländliche Wirtschaft, denn Sie können im örtlichen Café in Jõesuu essen gehen oder in Tori Lebensmittel einkaufen.

Erfahren Sie mehr über die Ökologie der Region. Heute ist Soomaa ein Synonym für wilde Natur, aber der Mensch hat die Natur von Soomaa seit Jahrhunderten bewohnt und verändert. Das Weidevieh begrenzte das Baumwachstum auf den Wiesen. Die Bewohner bauten Haabjas (Einbäume), um sich bei Überschwemmungen fortzubewegen. Der Zweite Weltkrieg und die anschließende sowjetische Besatzung veränderten das Gebiet - Tausende von Landbewohnern wurden nach Sibirien deportiert, während andere in ein kollektives Landwirtschaftssystem gezwungen wurden. Wenn Sie mehr über die Geschichte der Region erfahren möchten, besuchen Sie das Soomaa Besucherzentrum oder buchen Sie einen lokalen Führer für eine Kanutour. Sie können auch einen Besuch in der Werkstatt organisieren, in der Aivar Ruukel noch immer Haabjas nach jahrzehntelang überlieferter Tradition herstellt.

Unterstützen Sie nachhaltige Dienstleister: Die Nationalparks Matsalu, Soomaa und Lahemaa sind als nachhaltige europäische Tourismusdestinationen ausgezeichnet worden. Die EUROPARC Federation vergibt eine fünfjährige Charta für nachhaltigen Tourismus an Schutzgebiete, Unternehmer, die in einem zertifizierten Schutzgebiet tätig sind, und Reiseveranstalter, die Dienstleistungen nach den Grundsätzen des Naturschutzes anbieten. Fünf Tourismusdienstleister im Soomaa-Gebiet erhielten die Zertifizierung im Juli 2022: Matka-Rebane, Piesta Kuusikaru Farm, Tipu Nature School, das Soomaa Feriendorf und Soomaa.com.


Der See im Karstgebiet

In der warmen Saison führt der Salajõgi-Fluss nur wenig Wasser, das im Flussbett langsam gen Ostsee rinnt. Mit Einsetzen der Schneeschmelze ändert sich das jedoch drastisch. Einige Kilometer von Linnamäe entfernt erstreckt sich ein größeres Karstgebiet bis zur Landstraße. Hier fließt der Salajõgi eigentlich unterirdisch. In der fünften Jahreszeit aber tritt das Wasser an die Oberfläche und flutet das gesamte Areal. Ein temporärer See entsteht.

Das Karstgebiet Salajõe während der 5. Jahreszeit

Foto: Oru Vald, Visit Estonia


Narva umgeben von reißendem Wasser

Die Stadt Narva – ganz im Osten an der Grenze zu Russland gelegen – wirkt in der fünften Jahreszeit wie eine von wütenden Wassern bedrohte Insel. Die sonst kleinen Wasserstufen wandeln sich jetzt zu tosenden Wasserfällen und die ganze Stadt ist von dem wilden Rauschen umfangen. 


Naturschauspiel Valaste-Wasserfall

Auch der höchste Wasserfall Estlands ist in der Übergangszeit zwischen Winter und Frühling einen Besuch wert. Die großen Eiszapfen und die vom Frost an der Felswand gebildeten Skulpturen tauen allmählich und der 30 Meter hohe Wasserfall nimmt an Volumen und Kraft zu.

Der Valaste-Wasserfall

Durch die Treppenkonstruktion ist er in jeder Höhe gut zu beobachten.

Foto: Kristina Ernits, Visit Estonia


Der Hexenbrunnen von Tuhala

Laut der estnischen Folklore quillt dieser Brunnen hin und wieder über, weil Hexen das Wasser an seiner Quelle aufwirbeln. Tatsächlich ist es so, dass der Brunnen – er ist Teil eines unterirdischen Flusses im Karstgebiet Tuhala des Öko-Reservats Nabala-Tuhala – während des Hochwassers überläuft.

Wirbeln hier Hexen das Wasser auf?

Foto: Jarek Jõepera, Visit Estonia


Sobald der Fluss mindestens 5.000 Liter Wasser pro Sekunde befördert, läuft der Brunnen mit einer Geschwindigkeit von 100 Litern pro Sekunde über. Dadurch entsteht ein Effekt, der zu den einzigartigsten Naturerscheinungen in Europa gehört. Weil der Wasserdruck durch den unterirdischen Fluss erzeugt wird, handelt es sich nicht um einen künstlichen Brunnen – das Ganze ist ein echtes Naturereignis. Dieses uralte Phänomen kann jeweils zwischen einem Tag und drei Wochen dauern. Der Brunnen ist 2,4 m tief und sein Wasser ist aufgrund seiner Moorherkunft bräunlich.


Zuletzt aktualisiert: 08.03.2024

Thema: Südestland, Westestland, Natur & Tierwelt