Kihnu – das bezaubernde Eiland, das aus der Zeit gefallen ist

Quelle: Julia Kivela, Visit Pärnu

Kihnu – das bezaubernde Eiland, das aus der Zeit gefallen ist

Die kleine Insel Kihnu ist vor allem für ihre traditionellen und farbenfrohen Röcke und Trachten, für ihr Quasi-Matriarchat und für die alten sowjetischen Motorräder mit Beiwagen bekannt, in denen die Frauen stets quer über die Insel sausen. Ein Besuch Kihnus lohnt sich das ganze Jahr über – auch im Hinblick auf die Natur.


Wenn man an Kihnu denkt, kommen einem als Erstes Frauen in traditioneller Volkstracht in den Sinn. Und Handarbeit: fleißige Näherinnen, Weberinnen, Strickerinnen und Stickerinnen, die alleine oder in der Gruppe Kleidung und Kissenbezüge fertigen. Als nächstes tauchen Bilder von wind- und wettergegerbten Fischern vor dem geistigen Auge auf, die im Hafen Netze flicken oder an ihren Booten werkeln. Und dann sind da die Volkstänze, die schon die kleinsten Einwohner Kihnus perfekt zu können scheinen.

Unverkennbar Kihnu: Trachten und Motorrad

Und: Hier haben die Frauen das Zepter in der Hand!

Foto: Renee Altrov, Visit Estonia

Klischee? Ja. Aber in diesem Fall liegt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit darin: Kihnu ist tatsächlich so, wie man es sich vorstellt. Eine kleine, verwunschene Insel, auf der die Zeit stehen geblieben ist – mit aberwitzigen Geschichten und Legenden, die bis in fernste Vergangenheit zurückreichen, aber dennoch Einfluss auf die heutigen Inselbewohner haben. Das ist der Grund, aus dem jedes Jahr Besucher aus der ganzen Welt Kihnu einen Besuch abstatten. So etwas gibt es kaum noch – und schon gar nicht mitten in Europa.

Kihnuer Mädchen in farbenfrohem Gewand

Foto: Meelika Lehola, Visit Estonia

Reisen auf der Insel

In der Regel hat man drei Möglichkeiten, um sich auf der Insel anders als zu Fuß fortzubewegen: auf der Ladefläche eines kleinen Lastwagens, mit dem Fahrrad oder im Beiwagen eines der wunderbaren alten sowjetischen Militärmotorräder, von denen angeblich jede Familie auf Kihnu mindestens noch eines in Besitz hat. Gefahren werden die Motorräder von den Frauen der Insel – ziemlich zügig und in der Regel ohne Helm und Schutzkleidung, denn eine Polizeistreife kommt hier eher selten vorbei. Überhaupt haben hier die Frauen das Sagen und organisieren das gesamte Inselleben. Das liegt daran, dass die Männer nach wie vor meist als Fischer arbeiten und mindestens den ganzen Tag, wenn nicht mehrere Tage am Stück unterwegs sind.

Familie vor Insel-Leuchtturm

Foto: Renee Altrov, Visit Estonia

Bei der Fahrt über die Insel wechseln sich Felder und Pinienwälder ab und locker auf den Lichtungen verstreut finden sich kleine Häuser und Hofstellen. Inselneulingen wird eine Tour empfohlen, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen: „Kihnu Reesuratas" nennt sich dieser Rundweg, der 23 Kilometer lang ist und auch den Besuch des Heimatmuseums einschließt. Hier bekommt man einen guten Einblick in Geschichte, Kultur und Traditionen der Insel, die übrigens Teil des UNESCO Weltkulturerbes sind. Kihnu verfügt auch über einen Leuchtturm, der eine wunderbare Rundumsicht über das Eiland und die See ermöglicht.


Das Insel-Essen

Lecker! Geräucherter Fisch und frisches Brot

Foto: Danel Rinaldo, Visit Estonia

Gerichte mit Ostsee-Hering sind obligatorisch – und es gibt sie in vielen verschiedenen Varianten. Geräuchert schmeckt er wunderbar zum authentischen Kihnu-Brot. Da die Insel vom Fischfang lebt und die Bewohner echte Expertise in Sachen Fisch aufweisen, sollten Besucher die Chance nutzen und sich in die Fertigkeiten des Räucherns, Filettierens und Aufrollens von Fischen einweisen lassen; entsprechende Angebote gibt es regelmäßig.


Feste und Feiern

Im Frühsommer, Ende Mai, wenn der Flieder blüht, treffen die Einheimischen alljährlich emsige Vorbereitungen für das erste große Fest des Jahres: „Kihnu Keretäüs", die Kaffee-Tage. Es ist ein Schlemmerfest, das Anfang Juni stattfindet und die Vorstellung diverser Inselspezialitäten mit einem Unterhaltungsprogramm verbindet.

Zur Mittsommernacht – dem in ganz Estland verbreiteten großen Sommerfest – wird ein alter Fischerkahn in Brand gesetzt. Das Feuer ist der Auftakt zu einer Nacht voller Musik und Tanz in den farbenfrohen Inseltrachten.

„Kihnu Mere Pidu", das Kihnuer Meeresfest, ist das größte und bedeutendste Festival der Insel. Mitte Juli zeigen die Kihnuer hier regelmäßig alles, was sie können und haben: Es gibt einen großen Markt mit Handarbeiten und kulinarischen Spezialitäten, mit Workshops, künstlerischen Darbietungen, mit sportlichen Wettbewerben, Musik und Tanz.

Apropos Tanz: Wer die traditionellen Tänze erlernen will, sollte Kihnu im August besuchen. Denn das Festival "Kihnu tansu päe" steht ganz im Zeichen des Tanzens.

Das Kihnuer Violinen-Fest im Oktober bringt die besten Geiger Estlands auf die Insel. Sie spielen traditionelle Kihnuer Weisen, tauschen sich untereinander und mit dem Publikum aus, rufen die Instrumentenlehre wieder ins Gedächtnis, geben Konzerte und beleben – für Inselbewohner wie für Gäste – so das musikalische Erbe der Insel immer wieder neu.

Der Gedenktag der Heiligen Katharina schließlich bringt etwas Licht und Wärme in die dunkle Jahreszeit. An diesem Tag wirft man sich in Schale, verabredet sich mit Freunden und Nachbarn und hat zusammen jede Menge Spaß.


Kihnus Röcke als soziales Signalsystem

Auf der Insel Kihnu werden Traditionen bewahrt. Eine der augenfälligsten sind die farbig gestreiften Röcke, die von den Frauen der Insel bis heute selbst hergestellt und nach einem bestimmten System getragen werden.

Die estnische Insel Kihnu ist vielen Menschen inzwischen ein Begriff. Hier besteht so etwas wie das letzte Matriarchat Europas, denn es ist eine Insel der Frauen. Frauen haben das Sagen, sie prägen die Inselkultur und sie sind es auch, die die alten Bräuche bewahren und Traditionen nach wie vor mit Leben füllen.

Zur Dominanz der Frauen kam es hier historisch, weil die Insulaner zum großen Teil vom Fischfang lebten und die Männer oft tagelang am Stück zur See fuhren. Wohl oder übel mussten sich die zurückbleibenden Frauen mit ihren Kindern selbst durchschlagen, was sie natürlich mit Bravour taten.


Mit gesellschaftlicher Bedeutung ausgestattet: die Inseltracht

Neben der Arbeit in der kleinen Landwirtschaft, die hier von fast jeder Familie privat betrieben wird, war es vor allem die Herstellung von Kleidung, mit denen die Frauen sich beschäftigten. Es gibt reichlich Wolle auf der Insel – so gut wie jeder Haushalt hält Schafe – und so wurde hier eigentlich schon immer geschoren, gesponnen, gewebt und gestrickt, alles, von A bis Z, von den Insulanerinnen.

Seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich eine bestimmte Tracht der Inselbewohnerinnen und -bewohner entwickelt, die bis heute Verwendung im Alltag findet. Nicht jede Kihnu-Frau trägt sie heute noch wirklich täglich – die älteren Frauen jedoch durchaus! –, aber allerspätestens zu gesellschaftlichen Anlässen, Festen und Feiern ist sie omnipräsent.

Lebendige Traditionen

Bis auf die Akkordeon-Spielerin sind alle Frauen auf diesem Bild verheiratet, denn sie tragen über ihren Röcken eine Schürze.

Foto: Visit Estonia

Am herausstechendsten sind die farbig gestreiften Röcke, die man hier „kört" nennt. Alle Frauen auf Kihnu stellen sie selbst her (auch die jungen Mädchen lernen das noch), wobei die Farbgebung einem bestimmten System folgt. An der jeweilig getragenen Insel-Tracht kann man zum Beispiel ablesen, in welchem Lebensstadium sich die Trägerin befindet: Ist sie verwitwet, verheiratet, unverheiratet? Ist der Tod des Gatten schon länger her?

Verheiratete Frauen tragen über ihren Röcken eine Schürze, die sie lediglich nach der Geburt eines Kindes abnehmen dürfen, bis das Kind getauft wurde.


Ein Beispiel für das vielfältige Farbsystem der Kihnu-Röcke

Die eigentliche Farbe des Kihnu-Rockes ist rot. Rot gilt als Farbe des Lebens, die vor Krankheit und Tod schützt. Schaut man sich die farbigen Röcke und ihre Trägerinnen an, wird man feststellen, dass Rot in den Röcken der Mädchen und jüngeren Frauen dominiert. Schwarz bzw. ein sehr dunkles Blau werden in den Rock gewoben, um Trauer zu signalisieren.

Je mehr die Farbe eines getragenen Rockes in Richtung Schwarz tendiert, umso kürzer ist der Tod eines geliebten Menschen her. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Verlust wird auch die Rockfarbe wieder lebensfroher; Rottöne dominieren. Es sei denn, man ist in einem Alter angekommen, indem immer wieder viele nahe Menschen sterben; dann wird man vermutlich den Rest seines Lebens mit tendenziell blauen Röcken verbringen.

Übrigens: Auch der schwärzeste Rock verfügt unten am Saum über einen horizontalen roten Streifen; er schützt die Trägerin auch in größter Trauer vor weiterem Unglück und Krankheit.

Auch für alle gesellschaftlichen Anlässe gibt es einen Farbcode. Bei einer Beerdigung beispielsweise kann man an der Rockfarbe das ungefähre Verwandtschaftsverhältnis der Besucher zum Verblichenen ablesen. Während die Hautptleidtragende (zum Beispiel die Witwe) einen schwarzen Rock trägt, sind in den Röcken der anderen Trauergäste mehr oder weniger hellere Töne zu finden, je nach Nähe zum Verstorbenen.

Auch die Kleinsten werden in die Traditionen eingeführt

Foto: Meelika Lehola, Visit Estonia

Da dieses gesellschaftliche Signalsystem anhand der Rockfarben viele Zwischentöne kennt und sehr individuell ist, liegt es nahe, dass jede Frau auf Kihnu viele verschiedene Röcke mit unterschiedlicher Farbgebung haben muss, um stets passend angezogen zu sein.

Und in der Tat ist das so: Die Anzahl der Röcke – im Schnitt sind es um die 20 Stück pro Trägerin, oft noch viel mehr – geben damit auch Auskunft über wirtschaftliche Stellung und Vermögen einer Familie. Denn all die Röcke – vergessen wir das nicht – müssen aus der Wolle der eigenen Schafe auch erst einmal hergestellt werden.


Auf der Eisstraße nach Kihnu

Es gibt hier nicht nur sowjetische Motorräder.

Foto: Meelika Lehola, Visit Estonia

Normalerweise gelangt man mit der Fähre auf die kleine Insel. Im Winter aber – zumindest wenn das Wetter mitspielt und es lange genug sehr kalt war –, kann man Kihnu auch mit dem Auto auf einer der estnischen Eisstraßen erreichen. Sie ist 11 Kilometer lang und die Überfahrt ist wirklich ein Erlebnis.


Kihnu ist mit seinen lebendigen Traditionen eine unglaublich spannende Insel, die Sie unbedingt einmal besuchen sollten!


Zuletzt aktualisiert: 17.04.2023

Thema: Die Inseln, Geschichte & Kultur