Estland und die Hanse

Quelle: Jaak Nilson

Estland und die Hanse

Autor:

Volker Röwer

Gut fünfhundert Jahre intensivster Handel. Über zweihundert Städte in Europa. Zehntausende Schiffe. Millionen von zurückgelegten Kilometern auf dem Lande und auf dem Wasser. Unvorstellbare Mengen an Waren und Gütern. Es ging um Geld, viel Geld. Und um Macht. Die Warenströme und die Politik eines ganzen Kontinents hielt er in seinen Händen – der Hansebund.

Bis in die Gegenwart sind der einstige Einfluss und die Allmacht der Hanse, ihrer stolzen Mitglieder und der unzähligen Kaufleute und Handwerker, die von und mit den Handelsströmen lebten, in weiten Gegenden Europas zu spüren. Auch im Estland von heute ist das nicht anders. Gleich vier Hansestädte gab es hier – Reval (heute Tallinn), Dorpat (heute Tartu), Pernau (heute Pärnu) und Fellin (heute Viljandi).

Dabei war die Hanse weit mehr als eine Handelsorganisation. Sie war ein Schutzbund der Städte, einige davon an Ost- und Nordsee, weit mehr jedoch im Binnenland. Neben Waren und Rohstoffen wurden weitere wichtige „Güter" von Nord nach Süd, von West nach Ost transportiert: Nachrichten, Know-how, Wissen, auch so manche „revolutionäre" Idee. Vor allem aber: Menschen! Kaufleute, Handwerker, sogar Forscher und Entdecker. Sie alle haben ihre Spuren hinterlassen und dafür gesorgt, dass Europa näher zusammenrückte. Für vieles von dem, was uns heute selbstverständlich und wichtig ist, wurden die Wurzeln bereits vor Jahrhunderten gelegt – durch den Hansehandel.

Hansestadt Tallinn

Kaum eine andere mittelalterliche Hansestadt in Europa ist so gut erhalten wie Estlands Hauptstadt Tallinn. In ihrer einmalig schönen Altstadt ist die Hanse so präsent wie einst: beeindruckende Patrizierhäuser und Jahrhunderte alte Speichergebäude, reiche Gilden und an die Grenzen des Himmels stoßende Türme von Kaufmannskirchen. Mit der Geschichte der Hanse in den Städten Estlands kann man sich in Tallinns Museen vertraut machen. Und dass eine süße Leckerei eigentlich von hier stammt, daran zweifelt zumindest im Tallinner Marzipanmuseum niemand.

Seit 1997 gehört die Altstadt von Tallinn zur UNESCO Weltkulturerbe

Photo by: Estonian Tourist Board

Universitätsstadt Tartu

Wie Tallinn war auch Tartu ein Bindeglied im Russlandhandel der Hanse. Zu den hansischen Niederlassungen in Pleskau und Nowgorod war es von hier nicht mehr weit. Gemächlich fließt der breite Embach (estn. Emajõgi) durch die Universitätsstadt, deren mittelalterliches Gesicht beim großen Brand 1775 fast völlig zerstört wurde, die aber als „geistige Hauptstadt" des Landes ein pulsierender und unbedingt sehenswerter Ort geblieben ist. Die größte Backsteinkirche Estlands stammt aus jener Zeit, als Hansekaufleute den Alltag Tartus prägten.

Tartu ist die zweitgrößte Stadt Estlands und gleichzeitig die älteste in baltischen Ländern - erstmals wurde se 1030 erwähnt

Photo by: Meelis Lokk

Estlands Sommerhauptstadt Pärnu

Estlands „Sommerhauptstadt" Pärnu liegt an der Westküste des Landes. Über die wichtigen Handelswege, die die Stadt mit Nord- und Mittellivland verbanden, wurden Handelswaren transportiert; der eisfreie Hafen war Anlegestelle für Koggen und Kraweele, die Rheinwein und flandrisches Tuch in die eine, Pelze und Wachs in die andere Richtung beförderten. Heute ist Pärnu ein buntes Städtchen mit einer hübschen Innenstadt, wunderbaren Alleen mit Jugendstilvillen aus Holz und modernen Wellnesshotels entlang des kilometerlangen Sandstrandes.

Pärnu ist die Sommerhauptstadt Estlands

Photo by: Toomas Tuul

Geheimtipp Viljandi

Viljandi ist die kleinste der Hansestädte und mit Sicherheit ein Geheimtipp! Wenn auch der Großteil der mittelalterlichen Architektur im Livländischen Krieg vor über 400 Jahren vernichtet wurde, so ist der Ort doch eine verborgene Schönheit: kleine Straßen mit Backstein- und Holzhausarchitektur, verschiedene Kirchen, ein Schlossberg mit schönem Park, historischer Brücke und Ruinen einer Deutschordensfestung, dazu eine fantastische Aussicht auf die eiszeitlich geformte Umgebung – einfach traumhaft!

Die Stadt hat eine Kulturakademie und ein Theater. Der besondere Künstlercharme spiegelt sich in behaglichen Cafés und einer besonderen Atmosphäre wider. In Viljandi gibt es ein renommiertes Folkmusik- und Volkskulturzentrum in modernem Design. So passt das alljährlich ausgetragene Folk-Festival mit zehntausenden von Besuchern und vielen Musikern aus dem In- und Ausland hervorragend hierher.

Europa und Deutschland wären heute anders, hätte es die Hanse nicht gegeben. Auch Estland wäre grundverschieden, wenn sich einst Kaufleute und Seefahrer nicht auf den Weg in die hiesigen Städte gemacht hätten. Vermutlich hat sich das Selbstverständnis des modernen Europas zu einem gewichtigen Teil durch und mit der Hanse entwickelt.
Wir wünschen viel Spaß und Spannung beim Erkunden der lebendigen Geschichte im Norden!

Die Hängebrücke in Viljandi ist 1879 von Rigaer Baumeistern konstruiert worden

Photo by: Jaak Nilson


Zuletzt aktualisiert: 09.01.2023

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